Eine Warnung vorweg
Diese Folge unseres „Trainspotting der etwas anderen Art in Bosnien“ (die bisherigen Folgen über eine „namenlose Schöne im Sommerkleid“ finden sie hier und diejenige über Titos ersten Zug hier) beginnt mit einer Warnung, die ebenso aus einer Kindersendung, in der physikalische Experiment gezeigt werden, stammen könnte. Sie lautet:
Bitte nicht nachmachen!
Der Abstecher von den öffentlichen Straßen, den wir mit unserem Familienauto gemacht haben, um an unser hier beschriebenes Eisenbahnziel zu kommen, hat es in sich und ist eigentlich nichts für normale PKWs. Er führt nämlich im letzten Stück über abenteuerlich holperige Waldwege in eine der entlegensten Gegenden des ohnehin recht dünn besiedelten Landes. Das Ziel liegt auf mehr als tausend Metern Höhe in einem Gebirge, in dessen Urwälder sich nicht nur Fuchs und Hase, sondern auch Bären und Wölfe gute Nacht sagen. Und vor allem erstere durchaus auch mal am helllichten Tag gesehen werden.
Wir haben unseren Leichtsinn mit einem irreparabel Reifenschaden und einer mehrstündigen Wartezeit auf den Pannenlastwagen bezahlt.

Glücklicherweise hatten wir Handyempfang. Das ist hier keine Selbstverständlichkeit. Hätten wir die Panne in einem Funkloch gehabt, dann hätten wir wohl länger ausharren müssen. Während der ganzen Wartezeit kam nämlich kein einziges weiteres Auto, dessen Insassen man um Unterstützung bieten können hätte, vorbei.
Eigentlich gibt es nichts zu sehen
Auch sollte man bedenken, dass es am Endpunkt unseres Abstecher eigentlich (fast) gar nichts zu sehen gibt.
Aber genau das macht die Faszination dieses Ortes aus!
Unser Ziel war Srnetica, früher der höchste Eisenbahnknotenpunkt Jugoslawiens und ein sehr bedeutender noch dazu.
Früher war hier – im übertragenen Sinn – der Bär los, aber auch heute lebt er noch hier
Was kann man nicht alles Lesen über diesen Ort:
Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begann Österreich-Ungarn hier im großen Stil mit dem Holzabbau. So entstand hier zuerst eine Waldarbeitersiedlung. Weil das gefällte Holz abtransportiert werden musste, baute man dann die erste Eisenbahntrasse, natürlich im bosnischen Schmalspurmass 78 cm. Später kam dann noch eine zweite dazu, so dass über Jahrzehnte jeden Tag hier Dutzende von Personen- und Güterwägen durchfuhren, aber eben auch zum Umsteigen und Umladen Halt machten.
In diesem Umfeld wuchs die Gemeinde auf zeitweise bis zu 2.500 – manche sagen sogar 3.500 – Einwohner, die in dieser nur mit der Bahn erreichbaren Enklave in der Wildnis manchen Luxus genossen, der sonst nur für die Bewohner der jugoslawischen Großstädte erreichbar war.
So gab es hier bereits in den 1930er das ersten Grammophon. Das war schon damals, lange vor dem Sozialismus „gesellschaftliches Eigentum“.
Sein Besitzer, ein gewisser Vaso, der gleichzeitig Chefheizer war,stellte es nämlich abends, wenn die Jugend auf das Korso, den traditionellen Feierabendspaziergang ging, in sein geöffnetes Fenster. Oft blieb es nicht beim Anhören, sondern es fanden sich auch Paare, die zu den Schellacks spontan auf der Straße tanzten. Auch ein Kino gab es, das Stummfilme zeigte.
Zweiter Weltkrieg unterbricht das fröhliche Leben
Im zweiten Weltkrieg tobte dann auch hier der Kampf. In dem unübersichtlichen Durcheinander von deutschen und italienischen Besatzungstruppen, kroatischen Nationalisten und jugoslawischen Partisanen wurden die Bahnstrecken zu begehrten Zielen. Im nahen Drvar entging Tito nur knapp der geplanten Festnahme durch die Wehrmacht.
Dank der Bahn: Zeitungen und Filme tagesaktuell, so wie in Belgrad, Zagreb und Sarajevo
Danach ging das urbane Leben in der Wildnis in Srentica jedoch weiter. Im Kino gab es jetzt Ton- und dann auch Farbfilme. Auch das neueste vom neuen wurde gezeigt. Möglich war das, weil man über die Bahn sowohl mit Belgrad, Zagreb, Sarajevo und Ljubljana verbunden war. So konnten die aktuellesten Filme schon am Tag nach der Premiere hier im tiefen Bosnien vorgeführt werden. Auf demselben Weg kamen ebenfalls oft noch am Tag, an dem sie gedruckt worden waren, die Zeitungen aus den genannten Städten hierher.
Man konnte in Srnetica also lesen, was in den Großstädten gelesen wurde. Und, weil man zwischen ihnen lag, hatte man hier in der Wildnis, dank der Eisenbahn, vermutlich einen besseren Überblick als mancher Großstädter in dem Vielvölkerstaat.
Auch eine Schule für die Kinder der Waldarbeiter und Eisenbahner gab es. Und ein Krankenhaus mit bis zu drei Ärzten, dazu eine Apotheke.
Islam Medić erinnert sich in einem Internetblog in dem Beitrag „Naše putovanje Ćirom na more“ (Unsere Reise mit dem „Ćiro“ ans Meer“) daran, wie er auf einer vom Roten Kreuz organisierten Jugendreise (nur nebenbei bemerkt: wenn Sie sich wundern, warum muslimische Jugendliche mit dem Roten Kreuz fahren, haben Sie verkehrte Vorstellungen über Bosnien) ans Meer, bei der man einen Aufenthalt in Srnetica hatte:
Dort standen wir einige Zeit. Srnetica war eine große Baustelle mitten im Wald, die vor Waldarbeitern wimmelte, überall, noch mehr als in Šipovo oder Mliniste, gab es aufgetürmte Baumstämme, ganze Hügel mit Balken. Srnetica war auch die Kreuzung für den Ćiro (Spitzname eines Schmallspurzuges), hier trafen mehrere Strecken aufeinander. Und hier endete die, die im Sana-Tal von Prijedor und bergauf von Sanica Gornja über Bravska durch die dichten Wälder nach Srnetica führte. Hier erfolgte der Anschluss an die Linie an, die von Jajce nach Drvar und weiter nach Lika Kaldrma führte. Hier warteten wir auf den Zug aus Sanica, gekreuzt mit einem Zug aus Drvar.
Srnetica hatte damals alles, was es brauchte, Arbeiterbaracken, eine Küche und Köchinnen, einige diensteifrige Handwerker, Geschäfte und sogar Kino.
Wildnis verschluckte Spuren des städtischen Lebens
Das alle ist kaum vorstellbar, wenn man heute in Srnetica ankommt. Wir sind sogar erst einmal an dem einzigen Schild, das anzeigt, dass wir angekommen waren, vorbeigefahren, weil nichts darauf hindeutet, dass wir uns schon im ehemaligen Zentrum von Srnetica befanden.
Wenn man jetzt hier im Wald steht, ist es ähnlich, wie wenn man mit einem Boot über die untergegangene Stadt Rungholt fahren würde: Weit und breit auf den ersten Blick nur Natur und dennoch pulisierte hier einmal das menschliche Leben.
Wer sich aufmwrksam umsieht, sieht erste Hinweise, nämlich einige wenige Ruinen, meist versteckt hinter Bäumen.
Von manchen Häusern findet man nur mehr die steineren Grundrisse.
Bei anderen sind immerhin noch ein paar Steine des Ergeschosses erhalten.
Wer würde bei diesen wenigen Resten auf die Idee kommen, dass einmal tausende von Menschen lebten, arbeiteten und feierten?
Wo aber ist/war die Eisenbahn?
Bei etwas intensivster Suche stößt man dann doch noch auf Überreste, die belegen, dass hier einmal Eisenbahnen fuhren.
Zuerst fallen einem schnurrstracks geradeaus verlaufende Wege, die für eine Gebirgsgegend unnatürlich flach sind, und die irgendwann im Gestrüpp enden, auf.
Man realisiert: Hier verlief eine der Schmalspurstrecken im bosnischen Format. Wenn man dieser Fährte folgt, stösst man noch auf einen Prellbock, der Jahrzehnte überdauert hat:
Später finden wir dann noch in einer Lichtung Reste eines Schuppens.
Das war es dann aber auch schon!
Ein bisschen erinnert diese Situation, allerdings in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge, an den Potsdamer Platz in Berlin: Wer vor der Wiedervereinigung vor dieser menschenleeren Fläche gestanden ist und den Platz heute sieht, wird wissen, wie das gemeint ist: In dem einen Fall staunt man darüber, dass da jetzt so viel ist, wo früher nichts war. Im anderen ist man sprachlos, weil jetzt in der Natur nichts mehr daran erinnert, dass hier soviel menschliches Leben war.
Straßenausbau bedeutet Ende für Strecke und Städtchen
Erklärbar wird der Wandel, wenn man weiß, dass der Stern von Srnetica mit Beginn der Nachkriegszeit sich, zuerst langsam, dann aber immer deutlicher, zu Sinken begann.
Schuld war der Ausbau des Straßennetzes, durch den sich Personen- und Güterverkehr zunehmend weg von der Schiene verlagerte.
In den 1970ern war der Wettkampf „Schiene gegen Straße“ dann endgültig entschieden und im Jahr 1976 wurde auch die letzte der beiden Strecken eingestellt. Damit verloren die letzten Einwohner ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage und zogen weg. Die Strecken wurden rückgebaut und die Natur begann, sich das Gebiet zurückzuholen.
Bei der Volkszählung im Jahr 1991, der letzten vor Ausbruch des Jugoslawienkrieges, wurde in der ehemaligen Kleinststadt gerade einmal ein einziger Einwohner, übrigens serbischer Nationalität, verzeichnet.
Ökologische Gesellschaft plant Widereröffnung der Strecke
In letzter Zeit zeigen jedoch wieder Menschen Interesse an Srnetica. Vor einigen Jahren gründeten dreißig junge Menschen, überwiegende Einwohner aus dem nahen Prijedor, die Ekološko društvo “Željezničar” – Srnetica (Ökologische Gesellschaft „Eisenbahner“ Srnetica), deren Ziel ebenso der Naturschutz wie die Aufrechterhaltung der Erinnerung an diesen Eisenbahnknotenpunkt ist. Auch möchte man die Wiederansiedlung von Menschen dort und die Wiedereröffnung einer Schmalspurstrecke dorthin unterstützen.
Ein Anfang wurde von der mittlerweile auf fast siebzig Mitglieder angewachsenen Gesellschaft mit der Errichtung eines zweistöckigen Vereinsheims gemacht. Eine respektable Leistung in dieser entlegenen Gegend! Noch anspruchsvoller war jedoch die Wiederherstellung der 17 km langen Trinkwasserleitung dorthin.
Woher aber das Geld nehmen?
Seither scheinen die Aktivitäten jedoch zum Erliegen gekommen zu sein, obwohl für die Wiedereröffnung der Strecke im Jahr 2009 auch eine Gesellschaft gegründet wurde. Sie heißt ‚Pruge uzanog kolosijeka Srnetica-Mlinište-Šipovo“ (Schmalspurstrecke Srnetica-Mliništa-Šipovo) und ist in das Register des Grundgerichts Banja Luka unter Nummer 071-0-reg-09-001825 eingetragen. Auch ein Direktor wurde ernannt.
Auf die Anfrage eines Abgeordneten antwortete das Verkehrsministerium noch im Jahr 2016, dass man kein Geld für den Neubau der Strecke zur Verfügung stellen würde, da die Finanzierung Sache der Gemeinden sei, auf deren Gebiet die Trasse verlaufe
Ob sich die Hoffnung einer Tageszeitung,, dass, dass „Touristen aus Europa wieder auf der Steinbeiß-Strecke fahren werden“ erfüllen wird, bleibt also ungewiss.
Zu wünschen wäre es!
Internetseite lädt ein zu Nostalgiereise
In der Zwischenzeit kann man auf der Internetseite der Ökolögischen Gesellschaft „Eisenbahner“ Srnetica in Wort (leider nur in serbokroatischer Sprache) und Bild in Erinnerungen daran schwelgen, wie es hier war als dieses Dornröschen unter den Eisenbahnstädten noch wach und putzmunter war
(wird fortgesetzt)
Weiteres zum Thema Eisenbahn auf exyusite.net
Zum Thema „Eisenbahn in Jugoslawien“ finden Sie auf exyusite.net zusätzlich zur Serie „Trainspotting der etwas anderen Art in Bosnien “ außerdem Beiträge zu folgenden Themen:
- Vorstellung eines Buches von Werner Schiendl über das Eisenbahnwesen in Bosnien und Herzegowina
- Besprechung einer Ausgabe der Zeitschrift „BahnEpoche“ mit einer Geschichte der Steinbeiß-Bahn und einem Reisebericht aus jugoslawischen Zeiten
- Was geschah eigentlich mit dem Interrail-Umsteigebahnhof Belgrad?Was geschah eigentlich mit dem Interrail-Umsteigebahnhof Belgrad?
- Romantisch rostende Züge im südserbischen Niš
- Skurilles Lokomobil in Banja Luka
Auch hier sind Fortsetzungen geplant.
Kommentar verfassen