Belgrad hat viele Sehenswürdigkeiten zu bieten. Außer den offiziellen kann man, wenn man mit offenen Augen durch die Stadt geht, auch noch viele inoffizielle finden.
Dazu gehören insbesondere die Graffiti. Die Innenstadt von Belgrad ist nämlich gleichzeitig auch eine Open-Air-Galerie. Der Reiz wird noch dadurch erhöht, dass man die Exponate erst selbst finden muss.
Wer sich diese Mühe macht, wird jedoch mit Sicherheit fündig werden. Und richtig belohnt wird, wer sich auf diese Straßenkunstwerke einlässt,versucht, sie in das kulturelle Umfeld der Stadt und der Gesellschaft einzuordnen und Details zu studieren.
2 tote Rock-Helden + 1 toter Erfinder = 3 Legenden
Den Anfang machen eher konventionelle Grafittis mit den Portäts bekannter Personen an einer Hauswand. Wenigstens zwei davon kennt man international, zumindest wenn man das entsprechende Alter hat.
Jimy Hendrix und Bob Marley, die vermutlich täglich im Himmel zusammen jammen und sich dabei eine große Tüte Ganja teilen, kommen aus dem Westen, aber man kennt sie natürlich auch in Belgrad, das selbst eine ansehnliche Rockgeschichte vorweisen kann.
Wer aber ist der nächste Herr?
Balkan-Nerds und Technik-Nicks sollten kein Problem haben, ihn zu erkennen, auch wenn er hier etwas älter ist als auf den Standard-Bildern: Es ist Nikola Tesla, genialer Erfinder im Bereich der Elektrotechnik. Nach Berichten von Zeitgenossen weilte er aber auch zeitweise mental in entrückten, als0 psychedelischen Sphären.
Vielleicht ist er mit Jimy und Bob auf dieser Hauswand gelandet, weil er neue Technik für die beiden entwickelt? Ein Wha-Wha mit Teslaventil etwa?
Zu finden sind diese Porträts in der Fruškagorska Ulica. Das heißt übersetzt übrigen Frankenwaldstraße.
Nur wenige Meter weiter zeigt die von einem anderen Künstler gestaltete Stadt ihre Zähne, leider den falschen. „Guten Appetit“ möchte man hier nicht sagen.
Wenn man vor diesem Bild steht, muss man sich nur umdrehen (ein bißchen aufpassen sollte man dabei, den besten Blick hat man von einer Tankstelle zwischen den beiden Gebäuden) und dann sieht man das:
Es ist ein bißchen wie bei den Wimmel-Bildern von Bruegel: Man muß genau hinsehen! Dann sieht man Details, die Geschichten erzählen, die man allerdings nur ansatzweise dechiffrieren kann:
Der Astronaut und der Schafhirte
Da filmt jemand einen Astronauten vor einem künstlichen Mondhintergrund. Wird hier gerade die Mondlandung, die nach Meinung von einigen nie stattgefunden hat, gefaked?
Und warum rauft sich der serbische Schafshirte mit der typischen Mütze die Haare? Weil er bislang an die reale Mondlandung geglaubt hat? Oder weil er erbost darüber ist, dass man die Mondlandung jetzt faked, weil man so beweisen will, dass sie nie stattgefunden hat?
Klingt „von-hinten-durch-die-Brust- in`s Auge“? Lieber deutscher Leser: Am Balkan ist nichts unmöglich. Oder es wird auch nichts für unmöglich angesehen. Und vieles, was absurd erscheint, ist tatsächlich wahr.
The wired doctor, the sheep and the human skulls
Dann kommt der verrückte Medziner, der Schafe (schon wieder!) bunter macht. Irgendetwas hat das sicher mit der blutfarbigen Flüssigkeit in seinem Reagenzglas zu tun. Darunter sieht man schon die Totenköpfe – von Menschen, nicht von Schafen.
Was mag das bedeuten?
Hilft Lesen gegen Zum-Lemming-werden?
Und wer ist der dicke Mann im nächsten Bildausschnitt, der grau werdende Menschenmengen dazu bringt, zu Lemmingen zu werden? Und warum öffnet er dabei sein Jackett auf der Brieftaschenseite – die dem Herz gegenüber liegt?
Und warum befindet sich über dieser Szene eine Aufforderung zum Lesen, ausgerechnte in deutscher Sprache? Würde das Lesen etwas verhindern?
Dann kommt noch die Szene mit dem Schiff, in der das echte Mauerwerk, das unter dem Putz hervorkommt, hineinpasst, als wäre es ebenfalls gemalt
Bereits jetzt hätte man Themen für Stunden lange Diskussionen in einem der vielen Cafes der Stadt.
Aber es gibt noch mehr zu entdecken!
Feinsinniger Kunstgenuß mit sportlichen Schuhen
Aber bevor wir weitergehen, ein praktischer Tip für weibliche Leserinnen: Auch wenn der größte Teil der Damenwelt in Belgrad gerne in ausgefallenem und nicht eben flachen Schuhwerk durch die Straßen schwebt: Grafiiti-Jäginnen sei geländetaugliches Schuhwerk empfohlen. Graffiti findet man in Belgrad nämlich bevorzugt dort, wo das seit Jahrzehnten nicht mehr begradigte Kopsteinpflaster sprießt oder der Asphalt seit Dekaden bröckelt.
Wiederum nur wenige Schritte und wir sind bei der der Bushaltestelle unter der Brankov Most (Brankov Brücke), dort wo die Gavrilo-Princip-Straße auf diese Brücke führt. Der Namensgeber dieser Straße hat mit dem Attentat von Sarajevo den Anlass zum I. Weltkrieg geliefert. Anderswo im ehemaligen Jugoslawien wird er als Straftäter angesehen, hier als Held.
Wahrheiten und Oberweiten
Dort sind die Bilder weniger feinsinnig.
Auch wenn man per Graffiti aufgefordert wird, seine Wahrheit zu sprayen („Spray your truth“): Das was man hier findet, ist eher Comics für Erwachsenen entsprungen.
Roy Lichtenstein meets Zoombie!
Und direkt neben dem Wort „truth“
findet sich ein Graffiti, das weit von realistischen weiblichen Körperformen und den Gesetzen der Schwerkraft entfernt ist. Es lässt vermuten lässt, dass der Maler unter denselben Obsessionen leidet wie Russ Meyer .
Sagen wir es mal so: Farbenfroh und sehr plastisch das Ganze!
Zum nächsten Objekt, das ganz anderer Art ist, müssen wir nicht weit laufen. Es befindet sich in der Herzegovačka. Dort, wo kürzlich ein ganzes Künstler- und Kneipenviertel abgerissen wurde, um einer Megabaumassnahme Platz zu machen. Auch maskierte Abrisstrupps, die in der Dunkelheit zuschlugen, kamen dort zum Einsatz. (Und Erzählungen zufolge ließ sie die Polizei gewähren, und reagierte nicht auf die Anrufe besorgter und bedrohter Bürger.)
Wenig Farben, klare Strukturen
Dieses Werk ist nicht so bunt wie die eben beschriebenen, sondern drei Farben dominieren. Und es hat eine klare Struktur.
Für diejenigen, bei denen die drei hier verwandten Grundfarben keine Assoziationen hervorrufen: Es sind die Farben der serbischen Flagge. Wenn man dies weiß, dann macht auch die in diesem Bild zusammengestellte, auf den ersten Blick reichlich heterogene Menschenansammlung Sinn.
Aber bevor wir uns einige der abgebildeten Personen ansehen, sollten wir einen Blick auf die sonstigen Teile des Bildes weren: Die obere rote Fläche ist einfach eine durchgehende Farbfläche, durchzogen von geraden schwarzen Streifen. Hier dürfte es wenig zum Interpretieren, Hinein- oder Herauslesen und zum Analysieren geben. (Wobei man in Anbetracht der sozialistischen Vergangenheit des Landes durchaus gerade dem Fehlen jeglicher Gestaltungselemente im roten Farbbereich Bedeutung beimessen könnte. Aber mal ehrlich: Man muss nicht hinter jedem Baum einen Indianer sehen!)
Steinernes Meer in Blau
Die blaue Fläche lädt dagegen zu Interpretationen ein.
Sie besteht aus einer Mischung von aufrecht stehenden und sich schräg neigenden Steinquadern. Das könnten Grabsteine sein. Oder aber auch die Steine der Gebäude, die hier im Zuge des Megabauprojekts noch abgerissen werden sollen.
Wenn man wüsste, wann das Graffiti gemalt wurde, könnte man es vielleicht leichter einordnen. Nicht ausgeschlossen, dass hier Menschen zusammengekommen sind, um gegen den Abriss des Viertels Sava Mala zu protestieren.
Im darunterliegenden weißen Feld findet sich eine Menschenmenge, die die serbische Gesellschaft repräsentiert. Viele Steroetypen findet man hier:
Der stolze Bauer im Sonntagsstaat fehlt ebensowenig
wie der Offizier
oder – erkennbar am fünfzackigen Stern an der Mütze – der Partisan
Wer sucht, findet weitere Klischees, zum Beipiel den bärtigen Intelektuellen, den langhaarigen Berufsjugendlichen und den behäbigen Professorentypen.
Obwohl die Gesichter, anders als bei den pop-artigen Machofantasien in der Princip-Strasse, nur angedeutet sind, und die Gestalten für Stereotypen stehen, wirken sie individuell. Zumindest dann, wenn man schon Vertreter der Gruppe, für die sie jeweils stehen, kennengelernt hat. Dann liest man nämlich deren Gesichter hier hinein.
Ein Babygesicht lacht einen auf besonders nette Weise an. Hier hat jedoch offensichtlich ein Betrachter etwas nachgeholfen.
Auch König und Heiliger,in Serbien wichtige Personen, dürfen nicht fehlen.
Allerdings hat sie der Maler an den Rand der gesamten Gesellschaft gerückt. Zufall, dass es der rechte ist?
Weniger ist oft mehr
Am Busbahnhof vorbei geht es auf der Karadjodje-Straßee in Richtung Bahnhof. Dabei sieht man auf der anderen Seite eines der beeindruckensten Graffiti. Es zeigt, dass man die größte Wirkung oft mit bescheidenen Mitteln erzielen kann.
Es bedeckte die gesamte fenstlerlose Seitenfläche eines arg in die Jahre gekommenen Hauses und besteht nur aus verschiedenen Farbflecken. Von weitem sehen sie aus wie ein Herbstwald.
Belgrader Häuserwände haben noch mehr zu erzählen
Übrigens findet man auf den Häuserwänden Belgrads auch Sprüche, Parolen und Slogans. Einige davon werden wir bei Gelegenheit in einem anderen Beitrag dechiffrieren.
Hier schon einmal ein Vorgeschmack:
Hinweis:
Auf dieser Seite finden sie weitere Beiträge zu Street Art in der Region bezüglich der serbischen Hauptstadt Belgrad, der bosnischen Hauptstadt Sarajevo und Zenica sowie in der mazedonischen Hauptstadt Skopje.
Vielen Dank für die Bilder. Finde es immer fein wenn ich Beiträge von Graffiti aus Städten lesen darf, in denen ich noch nicht gewesen bin. Das ist also auch ein mögliches Reiseziel für mich. Zumal ich solch tolle Motive dort nie vermutet hätte.
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