Beitragsbild: Ehemaliger Stuhl des Vertreters Jugoslawiens am internationalen Gerichtshof in Den Haag, nun ausgesondert
Wir hatten bereits vor längerem das Buch „Weltgeschichte und Alltag im Banat. Fälle aus einem Anwaltsarchiv von der Monarchie bis zum Kommunismus“, Böhlau-Verlag Wien Köln Weimar, 2016, ISBN 978-3-205-20338-4, 279 S., von Tibor Várady vorgestellt.
Nun hat Dr. Oliver Vossius der Präsident des Deutschen Notarvereins (DNotV), der selbst Autor verschiedener Werke über das NS-Unrecht in Deutschland ist, in der Zeitschrift „notar“ unter dem Titel „Die absurde Logik der Ausgrenzung“ ebenfalls eine Buchbesprechung zu dem Werk publiziert, die wir hier mit Genehmigung des Autors und des Verlages, für die wir herzlich danken, auch für Interessierte, die nicht regelmäßig diese juristische Fachzeitschrift lesen, veröffentlichen:
Es muss Anfang 1989 gewesen sein. Als Notarassessor in München hatte ich mit dem interlokalen Ehegüterrecht der jugoslawischen Teilrepubliken zu tun. Dr. Wolfgang Reinl, einer meiner beiden Ausbildungsnotare, sagte mir, es gebe einen Professor dort, der sich damit auskenne, aber wie dieser heiße, wisse er auch nicht. Er sei wohl der Einzige, der dieses Gebiet beherrsche. Dieser Professor muss unser Autor gewesen sein. Seit 1963 lehrte er, Jahrgang 1939, an der Universität von Novi Sad internationales Privatrecht. Neben zahlreichen zumeist englischsprachigen Publikationen vornehmlich im internationalen Schiedsverfahrensrecht und einem Dr. aus Harvard hat er Lehraufträge u. a. an der Central European University in Budapest sowie den Universitäten Emory, Cornell und Berkeley. 1993 musste er, davor etwa sechs Monate Justizminister in der Regierung Panić, nach der Machtübernahme durch Milosević das Land verlassen.
Nicht zuletzt ist Várady aber auch als Literat ausgewiesen. Er war 1964 Gründer der in Jugoslawien in ungarischer Sprache bis zu ihrem Verbot 1971 erschienenen avantgardistischen Literaturzeitschrift „Symposion“ und ist als Essayist und Romanautor vornehmlich in ungarischer und serbischer Sprache hervorgetreten. Auch das hier anzuzeigende Buch gehört zu seinem literarischen Doppelleben. Es dürfte das Erste seiner Werke sein, das ins Deutsche übersetzt wurde. Man kann ihn thematisch wie stilistisch durchaus mit Louis Begley vergleichen, Partner der New Yorker Kanzlei Debevoise & Plimpton.
Várady stammt aus einer ungarischen Familie, die über drei Generationen hinweg in Großbetschkeret (ungar. Nagybecskerek, serbisch heute Zrenjanin) eine Anwaltskanzlei führte. Der Ort liegt östlich der Theiß zwischen Novi Sad und dem heute rumänischen Temeswar (ungar. Temesvár, rum. Timişoara). Das Buch zeigt anhand von Fällen aus dem Kanzleiarchiv die Wucht, mit der die große Geschichte des schrecklichen 20. Jahrhunderts in die kleine Welt der kleinen Leute in einer kleinen Stadt am Rande Mitteleuropas einbricht. Nur eine Landkarte hätte der Verlag diesem mit viel Liebe hergestellten Buch noch spendieren können. Wahrscheinlich aber ist man in Wien mit der Geographie dieses Landstrichs noch besser vertraut als wir.
Wie auch in Siebenbürgen siedelten in der heutigen Vojvodina, damals mit ihrem rumänischen Teil Banat genannt, ab dem 18. Jahrhundert auch Deutsche. Bis zur Urkatastrophe Europas leben sie dort neben Ungarn, Serben und Juden im ungarischen Teil der Doppelmonarchie. Bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Kanzlei dreisprachig (intern: ungarisch). Die Vermischung der verschiedenen Sprachgruppen macht eine ethnische Trennung unmöglich, sie ist auch gar nicht gewollt. So nebenbei wird erwähnt, dass sich die verschiedenen Volksgruppen zu deren jeweiligen Feiertagen, Geburts- und Namenstagen besuchten. So beginnt denn auch das Buch mit der Schilderung eines in ungarischer Sprache geführten Strafprozesses aus dem Jahr 1912 wegen des Vergehens der „Anreizung der Nationalitäten“ (S. 23-26). Den Angeklagten wird vorgeworfen, dass sie die Musikkapelle in einem Kaffeehaus fortwährend serbische Lieder hätten spielen lassen und dabei auf den serbischen König angestoßen hätten. Da sich angesichts des nicht unbeträchtlichen Alkoholkonsums aller Beteiligten keine brauchbaren Zeugen finden lassen, endet das Verfahren mit einem Freispruch. Dasselbe Vergehen, diesmal durch Absingen nationalistischer ungarischer Lieder, ist Gegenstand eines Strafprozesses im Jahr 1946 (S. 26-30). Diesmal kommen die Angeklagten gleich in Untersuchungshaft. Váradys Vater kann einen Freispruch erreichen, die beiden Mitangeklagten werden zu 18 Monaten Freiheitsentzug verurteilt.
Es kommt der Große Krieg und wenige Jahre später ein zweiter, noch größerer. Zuerst werden unter k&k-Vorzeichen die Banater Serben interniert und Váradys Großvater bemüht sich, sie frei zu bekommen. Später wird von serbischer Seite aus versucht, Kindern mit nichtungarischen Namen den Besuch ungarischer Schulen zu verwehren (S. 143-151). Mit dem neuen Krieg gebärden sich die Deutschen als Unterdrücker. Zuerst sind die Juden und ab 1944 schließlich auch die Deutschen weg. In zwei Kapiteln stellt Várady anhand von Fallbeispielen die Absurdität der Fragestellung dar, wer Ungar und wer Deutscher ist (S. 143-204). Beklemmend deutlich wird dies anhand von Scheidungsprozessen in gemischten Ehen, die teilweise nur zum Schein geführt werden, um das Familienvermögen vor einer Beschlagnahme zu schützen (S. 249-257). Teils verweigert die deutsche Besatzungsmacht sogar Scheidungen von Juden, um Unterhaltsansprüche zu Lasten deren (zu konfiszierenden) Vermögens zu verhindern. Die Geldgier ist eben doch stärker als die Rassenideologie (S. 236-
Várady belässt es nicht bei einer reinen Falldarstellung. Hinter den Alltagsfällen zeigt er eine Philosophie des Absurden. Recht ist Sprachspiel in der Hand der Mächtigen (z. B. S. 30-32, 55-56, 121, 153-154) und wer dieses Sprachspiel für sich instrumentalisiert, der gewinnt (erschreckend etwa S. 128-141). Durch die Dreisprachigkeit des Banat wird das Sprachspiel mehrdimensional. In seinen Nebenbemerkungen erweist sich Várady nicht nur als Ungar, der zu Serben, Juden und Deutschen eine spannende Distanz bewahrt, sondern auch als zutiefst überzeugter Humanist und Europäer, etwa wenn er darauf hinweist, dass das Gegenteil der Ausgrenzung einer Volksgruppe nicht etwa die Ausgrenzung der anderen ist, sondern die Ausgrenzung der Ausgrenzung. Seine Aphorismen und philosophischen Randnotizen sind es, die den Leser immer wieder innehalten lassen.
Zugleich bietet das Buch einen Blick in eine versunkene Welt, von Süddeutschland gerade einmal eine Tagesreise mit dem Auto entfernt. Unwillkürlich denkt man an Tschernowitz und die Bukowina, an deutschsprachige Autoren wie Joseph Roth, Rose Ausländer, Paul Celan oder auch an einen Autor aus einer anderen Randlage, an Elias Canetti. Auf die Bezüge dieser postkakanisch-skurrilen Absurdität zu Franz Kafka zu verweisen, klänge schon fast abgedroschen. Nicht vergessen werden sollten hier aber auch der polnisch Schreibende Józef Wittlin und seine Figuren aus „Salz der Erde“.
Auch bei Várady werden europäische Traditionen wieder lebendig, die nach dem Höllensturz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unwiederbringlich verloren sind. Dies gilt insbesondere für seine Bezüge zur ungarischen und zur serbischen Literatur, die immer wieder aufscheinen und den Leser darüber erschrecken lassen, wie wenig er eigentlich über unsere Nachbarländer weiß. Mit Várady kann man aussteigen, um einzusteigen. Nicht nur für Nachfahren von Donauschwaben, sondern für jeden, der sich auf die Spuren Europas begeben will, ist Váradys Weltgeschichte und Alltag daher ein Gewinn, nicht zuletzt dank einer kongenialen Übersetzung ins Deutsche.
Notar Dr. Oliver Vossius, München
Instruktiv zum Thema „Vergangenheitsbewältigung in Jugoslawien“ ist der Gastkommentar von Marie-Janine Calic „Vergangenheitspolitik im ehemaligen Jugoslawien ist eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (Neue Züricher Zeitung)
Für diejenigen, die Serbokroatisch verstehen, der Hinweis, dass Tibor Varady zwischenzeitlich mit „Put u juče“ einen Nachfolgeband veröffentlicht hat. Die Rezension dazu hat Miljenko Jergović, ein bekannter bosnischer Schriftsteller, geschrieben.
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