
Eine Zeitung aus Bosnien ist anders als eine Zeitung in Deutschland. Nicht nur wegen der Sprache. Und vieles, was an bosnischen Zeitung anders ist, findet sich ähnlich in anderen Zeitungen der Region.
Um deutschsprachigen Leser einen Einblick in die Medienwelt zu geben, soll hier durch eine zufällig ausgewählte Zeitung (Dnevni Avaz vom 23. März 2016) geblättert werden. Wir versuchen sozusagen einen „Walk Through“ durch eine Tageszeitung, deren Sprache den meisten nicht zugänglich ist.
Soviel kann man jetzt schon versprechen: Sie werden vieles erfahren, was gar nicht so anders ist als in deutschen Zeitungen. Einiges wird Ihnen aber vermutlich neu sein. Manches wird Sie wohl auch verwundern.
Politik: Jede Zeitung hat ihre Buhmänner und weißen Ritter, aber auch Platz für ausländische Kritiker
Eingangs unter „Aktuelno“ viel Politik: Harsche Kritik, deutliche Anklagen und Vorwürfe, Wer die verschiedenen Zeitungen häufiger im Wechsel liest (was kaum jemand hier tut), weiß, wer in welcher der „Buhmann-vom-Dienst“, und wer der „weiße Ritter“ ist.
Man ersieht daran: Zeitungen sind in der Region häufig vornehmlich einer politischen Richtung und weniger der objektiven Berichterstattung verpflichtet. Investigativer Journalismus findet eher in Nischen statt.
Andererseits gibt es auch textreiche Berichte über Gespräche mit ausländischen Beobachtern, die auch Ungeduld mit der Entwicklung des Landes äußern.
Der EU-Kommissar Johannes Hahn ist in dieser Ausgabe dabei, der eine unabhängige Justiz anmahnt. Und der US-Wissenschaftler Robert Donia, der aus seiner Sicht die Lage von Bosnien und Herzegowina analysiert und die derzeitige Staatsorganisation (die Ergebnis des Friedensvertrages von Dayton ist) als „Užas“ (frei übersetze: Katastrophe) bezeichnet.
Ausland: Folgenlose Bombe in Belgrader Café wichtiger als südkoreanische Rakete, Obama in Cuba etc. pp. usw.
Danach, in der Rubrik „Globus“, dann Nachrichten aus dem Ausland:
- Obama bei Castro,
- Südkorea testet neue Rakete,
- ein weiterer der Attentäter von Paris anhand seiner DNA identifiziert,
- ukrainische Pilotin in Moskau verurteilt,
- deutsche Wirtschaft droht zu schwächeln,
- in Den Haag wird der ehemalige Stellvertretene Präsident des Kongos wegen Kriegsverbrechens verurteilt,
All diese Nachrichten nehmen zusammen weniger Platz ein, als der Bericht über einen Vorfall bei dem ein Unbekannter in Belgrad in ein Café, das einem bekannten Politiker gehört, ging, dort das Personal aufforderte, das Lokal zu verlassen, und dann eine Bombe dort deponierte. Es entstand Sach- aber kein Personenschaden
Dann die Rubrik „teme“ (Themen): Die Bauwirtschaft beklagt mangenden und verspätete staatliche Investitionen, Bauern demonstrieren, die Bevölkerung geht zurück.
Frühlingsfest sorgt für landesweite Nachricht
Eine Seite weiter Beginnt das „Mozaik“: Dort ein ganz anderes Scenario: Die Čimburijada (wörtlich übersetzt wohl: das Rührei-Fest) ,, ein Frühlingsbegrüßungsfest in Zenica: Dedo (Opa) Ismet, ein 88-jähriger Moslem, erzählt, dass er in seiner Jugend diesem Tag entgegengefiebert hat, Und Emilijan Knezevic (kein Moslem) scheint Jahrzehnte später von demselben Geist erfüllt. Er geht nämlich zur Feier des Tages in der eiskalten Bosna schwimmen.
Für Außenstehende vielleicht ein marginales Ereignis. Hier eine halbe Seite im vorderen Teil einer landesweit verbreiteten, vor allem von Bošnjak (muslimischen Bosniern) gelesenen Tageszeitung.(Außerdem hat die Čimburijada eine eigene Wikipedia-Seite, allerdings nur in Landessprache.)
Kurzer Prozess the American Way
Ein ganz anderes Thema zwei Seiten weiter: Ebenfalls im vorderen Teil wird über einen Prozess gegen Wahhabiten berichtet, arabische Muslime, die während des Krieges zur militärischen Unterstützung nach Bosnien kamen, und nun im Verdacht stehen, den Terrorismus des IS zu unterstützen.
Zwei der Angeklagten haben bereits sporazum o priznanju krivice, also einen „deal“ mit der Staatsanwaltschaft, abgeschlossen, liest man dort.
Sporazum o priznanju krivice ein Wort, dem man auch in anderen Zeitungen aus der Region öfters begegnet. Ein solcher deal ist eine Form „kurzen Prozess zu machen“, der mehr und mehr in die Gesetzgebung der Region Eingang findet.
Dieses, aus Amerika importierte Rechtsinstitut (dort heißt es plea bargaining bzw. guilty plea) beschleunigt Strafverfahren enorm. Die Wahrheitsfindung bleibt jedoch dabei häufig auf der Strecke. Schlimm, wenn es um Straftaten geht, die für die Allgemeinheit von großer Bedeutung sind.
Unvermittelter Themenwechsel
Danach gleich wieder ein ziemlich unvermittelter Themenwechsel. Mit ähnlichen Nachrichten wie im „Mozaik“ geht es im „Panorama Hercegovina“ weiter:
Renovierung lokaler Kunstdenkmäler, ein Schulwettbewerb, eine Autorenlesung, aber auch – zwanzig Jahre nach Kriegsende – Probleme von rückkehrenden Vertriebenen. Es fehlt an Wohnungen, viele leben seit Jahren in „kollektiven Zentren“. Ein früher regional bekannter Geschäftsmann lebt mit seiner Frau in einem metallenen Verkaufskiosk. Jetzt helfen ihm Nachbarn beim Neubau eines kleinen Wohnhauses.
Bomben, Drogen und Schusswaffen in der „Schwarze Chronik“
Dann folgt der für viele Leser wohl wichtigste Teil der Zeitung überhaupt. Die, meist prall gefüllte Rubrik „Schwarze Chronik“ (Crna Kronika). Hier eine Auswahl der Berichte dieses Tages.
„Schwarze Chronik“ die erste Doppelseite
Auf der ersten Doppelseite finden sich:
- Mostar und Citluk: Razzia und Verhaftungen wegen organisierter Erpressung und Schutzgelderpressung,
- Bugojno: die Mitarbeiterin einer Wechselstube wird überfallen, es werden 20.000 konvertible Mark (kurz KM, eine KM entspricht 0,49 Cent), geraubt, das – vermutlich gestohlene – Fluchtauto der Räuber wird an anderem Ort ausgebrannt gefunden, die Täter wollten wohl Spuren verwischen,
- Tuzla: ein 25- jähriger vergewaltigt eine 23-jährige und drückt seine Zigaretten auf ihrem Körper aus
- Cazin: die Mitarbeiterin eines Wettbüros wurde angeblich überfallen, 2.280 KM, also etwas mehr als 1.000,oo Euro, sollen geraubt worden sein. Hinterher stellt sich heraus, dass sie den Raub mit ihrem Ehemann inszeniert hat. Den Bericht schmückt ein farbiges Bild der beiden, offensichtlich aufgenommen in einer Kneipe, darunter steht der volle Namen.
- Dazu: Auf einer Doppelseite alleine drei Berichte über Drogendelikte, darunter auch die Verurteilung eines Polizisten, der in Sarajevo mit Cannabis gehandelt hat. Drei Jahre bekommt er dafür. Wiederum nennt die Zeitung nennt nicht nur sein Alter, sondern auch seinen vollen Namen,
- Wieder Cazin: Kinder finden beim Spielen eine Bombe, glücklicherweise passiert nichts
„Schwarze Chronik“ die zweite Doppelseite
Auf der nächsten Doppelseite geht es weiter:
- In Bijelina wird eine Gerichtsverhandlung wegen der Tötung eines 16-jährigen durch einen 17-jährigen vertagt, da Verwandte und Freunde des Opfers demonstrieren. Die Zeitung schreibt von einer möglichen Verurteilung wegen fahrlässigen Tötung (ubistvo iz nehata), zitiert aber auch den Vater des Angeklagten – wiederum mit vollem Namen – der angekündigt hat, seinen Familiennamen zu ändern, um nicht an den Totschlag bzw. Mord (ubistvo) seines Sohnes erinnert zu werden
- Sarajevo: Verdächtige wegen einer Schießerei werden verhört und dann wieder freigelassen
- Dazu wiederum Drogendelikte:
- in Kladnj 78 Cannabis-Pflanzen,
- an der Grenze in Neum ein 52-jähriger Deutscher, dem wiederum vollständige zitierten Namen nach zu urteilen, ein „Biodeutscher“, wurde mit einer unbekannten Menge nicht näher bezeichneter Drogen ergriffen,
- in Bosanska Dubica schießt ein Gast mit der Gaspistole in die Decke eines Lokals und verprügelt den Wirt, hinterher wird Marihuana in seinem Auto gefunden
Auch noch in der „Schwarzen Chronik“
Dazu noch
- Unfälle,
- von der Mutter verlassene Kinder und ein
- Selbstmord, der sich allerdings im Nachbarstaat Montenegro ereignet hat. Es sind die Umstände, die ihn für die Medien auch hier interessant machen: Ein 62-jähriger reist über Nacht aus seinem derzeitigen Wohnort Belgrad nach Kotor-Varos an, meldet sich nicht bei seinem Bruder, sondern geht direkt zum Friedhof, zum Grab seines Vaters, dem er emotional sehr verbunden gewesen sein soll. Dort bringt er sich morgens um sieben mit einer Bombe um. Ein Abschiedsbrief wird gefunden und Teile davon veröffentlicht, bevor er den Angehörigen bekannt gemacht wurde.
Drogen, leicht zugängliche Waffen und Bomben, fingierte Überfälle für etwas mehr als 1.000,00 Euro: die Taten sagen viel über die Gesellschaft und die soziale Situation in der Nachkriegsgesellschaft, auch 20-Jahre nach dem Ende des Krieges in Bosnien.
Und die Art der Berichterstattung sagt viel über die Presse hier.
„Biznis“: Export geht zurück, verdeckte Werbung und neue „Penny“-Märkte
Danach der Wirtschaftsteil („Biznis“): In den ersten beiden Monaten des Jahres ist der Export um 1,2 % gesunken, aber in Banja Luka fand eine Baumesse statt, die teilnehmenden Unternehmen neue Kontakte bracht. Außerdem wird die Hoffnung deutlich, dass sie die örtliche Wirtschaft vor allem durch Ausländer belebt wird. Diesbezüglich wird berichtet, dass sich Unternehmen aus Montenegro derzeit über die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit Unternehmen aus Bosnien und Herzegowina informieren.
Russische Bank mit rosigen Konditionen als redaktioneller Beitrag
Bereits im Lande tätig ist die russische „Sberbank“. (Sie hat das Filialnetz der österreichischen Volksbank International in verschiedenen Staaten übernommen, als diese sich von den dortigen Markt zurückzog). In einem redaktionellen Beitrag wird auf einer Drittel Seite – einschließlich eines Bildes des Bankdirektors – berichtet, dass man neue Kredite mit einer Verzinsung ab 6,5 % anbieten würde.
Es sei eine Angewohnheit (navika) der Bank, den Kunden im Frühjahr „neue, frische und attraktive“ Angebote zu machen, darf der Dirketor sagen. Und hinzusetzen, dass es sich dabei dieses Mal um „sehr attraktive, konkurrenzfähige Abzahlungsfristen und –beträge“ handelt.
Ist das schlechter Journalismus oder bewusste Schleichwerbung?
Der Zinssatz von 6,5 % in der gegenwärtigen Niederzinsphase mag übrigens auch in der gegenwärtigen Niedrigzinsphase durchaus seine Richtigkeit haben. Die Höhe der Darlehenszinsen wird schließlich nicht nur durch das allgemeine Zinsniveau bestimmt, sondern auch durch das Risiko, dass der Kredit nicht zurückgezahlt wird. Und das ist in Bosnien und Herzegowina nicht eben gering.
Jenny, Jenny, dreams are ten a penny – Es fragt sich nur: Welcher Penny?
Nur auf den ersten Blick mit ausländischen Unternehmen zu tun hat der Bericht darüber, dass „Penny Market“ und „Penny Plus“ nun seit zwanzig Jahren auf dem hiesigen Markt vertreten sind.
Die Gründer dieser Supermarktketten sind nämlich dem Bericht zufolge, einheimische Geschäftsleute. Mit dem in Deutschland bekannten „Penny“ und dessen anderen ausländischen Ablegern scheint das Unternehmen, zumindest, wenn man der englischsprachigen Wikipedia-Seite Glauben schenken darf, also nicht zu tun zu haben.
Derlei ist übrigens nichts Ungewöhnliches in der Region. In Pristina gab es auch einmal einen Fast-Food-Laden namens „KFC“ in bekannter Aufmachung. Tatsächlich stand das „K“ jedoch nicht, wie überall sonst auf der Welt, für „Kentucky“, sondern für „Kosovo“.
Berichtet wird auch, dass diese Pennies zwei neue Geschäfte eröffnet hätten. Dadurch würden, das wird besonders hervorgehoben, fünfundzwanzig neue Arbeitsplätze entstehen.
Das klingt gut. Insgesamt gesehen kann man aber bezweifeln, ob das wirklich zu einem Anstieg von Arbeitsplätzen führt – oder sogar zu einer Verminderung.
Kleine Einzelhandelsgeschäfte sind für viele Familien nämlich eine Möglichkeit, sich (oft: mehr schlecht als recht) über Wasser zu halten. Mit jeder Neueröffnung eines großen Marktes dürfte einigen von ihnen der wirtschaftliche Boden entzogen werden und dort Arbeitsplätze wegfallen. Auch solche mitarbeitender Familienangehöriger, die oft in keiner Statistik verzeichnet sind. Hier macht man also (auch in anderen Staaten der Region) eine Entwicklung durch, die in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960-ern begann.
Unbewältigte Vergangenheiten
Auch von unbewältigten Vergangenheiten ist die Rede.
Hier ist zum einen der Krieg der 90er. Im Vorfeld der Verkündung des Urteils gegen Radovan Karadzic wird für den Folgetag eine 40-seitige Sonderbeilage angekündigt.
Auch ansonsten ziehen sich die Folgen des Krieges wie ein roter Faden durch die viele andere Rubriken.
Zum anderen ist hier aber auch die Vergangenheit während des Sozialismus noch lange nicht aufgearbeitet: Nicht die Phase zu Titos Lebzeiten und nicht die Zeit danach.
Davon zeugt ein Bericht über die „nackte Insel“ (Goli Otok), ein Straflager, in dem alleine zwischen 1948 und 1956 etwa 13.000 politisch unliebsame Personen interniert wurden. Etwa 300 starben, die meisten während einer Typhus-Epedemie. Ganz so liberal, wie das vor allem Ende der 1960er/Anfang der 1970er auch viele deutsche Linken gehabt hätten, wäre der dritte Weg von Josip Broz „Tito“ also nicht.
An anderer Stelle ist davon die Rede, dass die UDBA, der jugoslawische Inlandsgeheimdienst, Ende der 1980er (Tito war damals schon tot), Vertreter der katholischen Kirche abgehört hat.
Auch an solchen Dingen zeigt sich, dass der Balkan mehr Geschichte hat, als er ertragen kann. (Was umso dramatischer ist, als man hier ein geradezu fanatisches Verhältnis zur Geschichte hat. Leider weniger in dem Sinne, dass man daraus auch die negativen Seiten der jeweils eigenen Historie kennenlernen kann. Für manche hier scheint die Beschäftigung mit Geschichte vor allem dazu zu dienen, noch nicht gerächte Sünden der „anderen“ ausfindig zu machen. Nicht eben optimale Voraussetzungen für die Schaffung eines bürgerlichen Staates in einem multi-ethnischen Umfeld….)
Abhören ist auch heute noch beliebt in der Region. Dazu mehr an anderen Stelle, im letzten Teil des Überblicks über die Geschichte Mazedoniens.
Leben und Mosaik: Prominenz im Taschenformat
Wir blättern weiter und kommen zu der Rubrik „Zivot“ . Das heißt „Leben“. Wo genau der Unterschied zur Rubrik „Mozaik“ vorher besteht, wird nicht ganz klar. Jedenfalls kommt man als Gymnasiastin, die regelmäßig an Tanzwettbewerben teilnimmt, hier in eine landesweit erscheinende Zeitung. Oder man darf als Trainer der Taekwondo-Clubs von Kakanj den Prominenten-Fragebogen ausfüllen (Politik ist für Sie: Ich weiß von vielen Dingen, aber ich interessieren mich nicht dafür; Erinnern Sie sich an den ersten Kuss: Ja). Man fühlt sich an die Landkreisbeilage einer fränkischen Tageszeitung erinnert.
Traueranzeigen: Die Toten blicken einen an – und kommen regelmäßig wieder
Oft am dicksten ist der Teil mit den Traueranzeigen.
Jahrestage und Fotos machen einen großen Unterschied
Dies auch, weil man hier den Brauch pflegt, in gewissen Abständen an den Todestag von Familienmitgliedern zu erinnern. Außerdem scheint der Kreis derjenigen, die zusätzlich zu dem engeren Kreis der Hinterbliebenen eigene Traueranzeigen aufgeben, größer zu sein als in Deutschland, wo sich dies erst langsam verbreitet, erscheint hier kaum eine Traueranzeige ohne Bild des oder der Verstorbenen.
All dies macht die Lektüre dieses Teils der Zeitung vielschichtig.
Zum einen liest man nicht nur unbekannte Namen, sondern es sehen einen individuelle Menschen aus der Mitte ihres Lebens an, die aber seit gestern oder vorgestern tot sind. An diesem Tag ist auch ein vielleicht dreijähriges Mädchen dabei, wortreich betrauert in verschiedenen Anzeigen, aus denen man über die Todesumstände nichts erfährt. In solchen Momenten trauert man unwillkürlich mit Unbekannten mit.
Todestags-Anzeigen nehmen dem Leser trügerische Sicherheit
Die Jahrestagskultur führt dazu, dass man eigentlich an jedem Tag mit Anzeigen für Menschen, die verhältnismäßig jung verstorben sind, konfrontiert wird.
Deshalb wird einem beim Blättern durch diese Seiten die Vergänglichkeit des Lebens an jedem Tag mehr als bewusst. Und die Tatsache, dass der Sensenmann in jeder Altersgruppe Ernte hält.
In Deutschland sind schon einmal Tage dabei, an denen alle diejenigen, deren Tod angezeigt oder Beerdigung bekanntgegeben wird, deutlich älter waren als man selbst. Man kann sich dann in der trügerischen Illusion wiegen, dass der Tod ein Thema wäre, das in der eigenen Alterskohorte nicht vorkommt.
Hier hat immer jemand, der wesentlich jünger ist als man selbst, Todestag und schaut einen lebenslustig an. Memento mori!
Krieg wird wieder lebendig
Die Tradition, an Todestagen an Verstorbene zu erinnern, erlaubt einem in Bosnien und Herzegowina bei der Lektüre der Todesanzeigen auch, den Kriegsverlauf nachzuempfinden. An manchen Tagen sind nämlich besonders viele Erinnerungsanzeigen mit identischen oder nahe beieinander liegenden Todestagen zu lesen. Dann jähren sich mörderische Kriegstage!
Und man kann sie auch, alleine anhand dieser Anzeigen, einigermaßen rekonstruieren:
- Waren es Menschen verschiedenen Alters, dann waren es Zivilisten. Meist sind sie dann an ein- und demselben Tag gestorben und waren Opfer von heftigen Angriffen oder auch Massakern, je nach Gegend mit Granaten oder auch „individuell“ begangen.
- Sind es ausschließlich Männer, die meisten von ihnen sehr jung, an die erinnert wird, und werden verschiedene, zeitnahe Todestage vermerkt, dann sind sie bei Offensiven oder Gegenoffensiven gefallen. Dann findet man meist mehrere Anzeigen für ein und dieselbe Person: Auch die militärische Einheit und der Veteranenverband erinnern dann.
Diese Erinnerungskultur hat auch etwas Zweischneidiges. Man überlegt, ob Verzeihen und Versöhnen vielleicht leichter wären, wenn die Toten nicht turnusmäßige im Bild zurückkehren würden. Gerade hier, wo die verschiedenen, am Krieg auf gegensätzlichen Seiten beteiligten Gruppen, in den Wohnblocks der Großstadt oft Tür an Tür wohnen.
“Forget the deaths you left, they will not follow you“, singt Bob Dylan. Kann es sein, dass im Vergessen oder zumindest im Verblassen von Toten eine Voraussetzung für eine unbelastete Zukunft liegt?
Andererseits: Die Familien der Toten sehen diese auch ohne diese Anzeigen jeden Tag, in Gedanken, als Fotos in ihren Wohnungen und nicht selten in grausamen Erinnerungen an ihren Tod.
Ein Gerichtsteil, der Fragen aufwirft
Spezifisch bosnisch-herzegowinisch ist einer der letzten Teile hiesiger Tageszeitungen: der Gerichtsteil.
Nein, es geht nicht im Gerichtsreportagen. Diese finden sich weiter vorne im Blatt. Es geht um Gerichtsanzeigen. Aufmerksame Leser deutscher Tageszeitungen mögen jetzt an die kleinformatigen amtlichen Bekanntmachungen von Eintragungen in das Vereins- und Handelsregister denken.
Gerichte zahlen an Zeitungen
Weit gefehlt: Hier werden in den Fällen, in denen Prozessparteien amtliche Schriftstücke nicht zugestellt werden können, Ladungen zu Gerichtsverhandlungen und Urteile als Anzeigen, die im Schnitt eine Achtel Seite einnehmen, veröffentlicht.
Auch in anderen Rechtssystemen gibt es für Fälle, in denen der Aufenthalt einer Partei nicht zu ermitteln ist, Ersatzzustellungen oder öffentliche Zustellungen. In Deutschland erfolgt eine solche öffentliche Zustellung beispielsweise durch Anschlag an die Gerichtstafel.
In Bosnien und Herzegowina hat man sich, möglicherweise auf Rat irgendwelcher ausländischer Berater, dazu entschlossen, die Zustellung durch Zeitungsanzeigen vorzunehmen.
Womit man haarklein nachlesen kann, wer wegen welcher Beträge von wem verklagt wurde. Da auch Zwangsvollstreckungsbeschlüsse veröffentlicht werden, kann man auch nachlesen, wer gegen wen die Zwangsvollstreckung versucht.
Fragen, die man stellen kann (stellen sollte!)
Zumindest, wenn man derlei aus seinem eigenen Land nicht kennt, stellen sich einige Fragen:
- Ist es wirklich verhältnismäßig, jemanden wegen eines angeblich nicht bezahlten Rechnungsbetrags von nicht einmal 22,50 Euro ( in dieser Ausgabe wird eine Klage wegen 44, 96 konvertiblen Mark durch Anzeige öffentlich zugestellt) so öffentlich zu machen?
- Stehen in diesem Fall überhaupt die Kosten für die Anzeigen im Verhältnis zu dem Betrag, der geltend gemacht wird?
- Wer wählt eigentlich die Zeitungen aus, in denen diese Anzeigen veröffentlicht werden?
- Diese Anzeigen müssten eigentlich ein erkleckliches Zubrot für die jeweiligen Zeitungen sein. Deshalb kann man auch fragen, ob vor Vergabe der Anzeigenaufträge ein transparentes Vergabeverfahren durchgeführt wird?
- Wie wird eigentlich ausgeschlossen, dass über diese Einnahmen bestimmte, politisch besonders beliebte Zeitungen unterstützt werden?
- Zeitungen in Bosnien und Herzegowina haben meist eine bestimmte Volksgruppe als Leserkreis. Deshalb fragt es sich auch, wer sicherstellt, dass die Anzeigen wirklich in Zeitungen erscheinen, die er oder sein soziales Umfeld wirklich lesen?
Viele Fragen für praxisorientierte juristische Forschungsarbeiten. Wir sind gespannt darauf, die Antworten zu lesen
Sport, Showbiz und Automarkt
Sport: Wichtig, umfangreich und bunt, ebenso wie die Rubrik Showbiz, in der dieses Mal von einem erotischen Tanz von Kate Mos, natürlich mit ansprechendem Bild, berichtet wird – und der Verrohung der Sitten in den Reality-Shows der Privatsender.
Für Leser sind das wichtige Teile, aber für alle diejenigen, die schon einmal eine „Bild am Sonntag“ in der Hand hatten, verbirgt sich dort nichts Unbekanntes. Außer vielleicht, dass man hier nicht bis zum Sonntag warten muss, um diese Rubriken so reich gefüllt vorzufinden. Panem et circencis, da ist es wieder
An Showbiz schließt sich der „auto market“ an. Im Anzeigenteil landestypisch viele VW-Golf, die zum Verkauf angeboten werden. Weniger erschwinglich dagegen die Autos, die im redaktionellen Teil vorgestellt werden: Die neue E-Klasse von Mercedes. Auf den ersten Blick scheint es diese neuerdings zum Schnäppchenpreis zu geben: Als Preis für das billigste Modell, den E 220 d werden nämlich gerade einmal 44 226,00 genannt. Eine sehr kleine Schrift weist allerdings darauf hin, dass es sich nicht um Landeswährung, sondern um Euro handelt. Man muss aus einheimischer Sicht also in doppelten Beträgen denken.
Aber selbst diese würden nicht reichen, um die neuen Bentleys und Chevrolet Camaros, die ebenfalls vorgestellt werden, zu kaufen.
Noch teurer würde es allerdings, wenn man den unübersehbar abgedruckten Ausspruch von Frank Sinatra befolgen würde:
Einen Ferrari kauft derjenige, der jemand sein möchte,
einen Lamborghini derjenige, der bereits jemand ist
Menschen, die souverän genug sind. ihr Selbstwertgefühl aus sich selbst zu ziehen, und sowohl auf Statussymbole wie auf die ständige Bestätigung durch die fühlbare Mehrheit ihrer Zeitgenossen verzichten können, sind überall selten. Hier sind sie vielleicht noch ein bisschen seltener!
Fazit
An ihren Zeitungen kann man Gesellschaften erkennen. Das ist das eine, zu dem es auch vieles kritisches zu sagen gäbe.
Das andere ist, dass man wohl auf kaum eine andere Art einen solchen Querschnitt durch ein Land betrachten kann, wie bei der aufmerksamen Lektüre von Zeitungen. Und sogar die letztendlichen Dinge kommen nicht zu kurz. Diesen wird, im Gegenteil, mehr Raum eingeräumt als in deutschen Zeitungen.
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