Südosteuropa-Gesellschaft zur Krise der Demokratie in Südosteuropa
In Zeiten vielfältiger Krisen und Veränderungen weltweit findet Südosteuropa derzeit wenig Beachtung in den westeuropäischen Medien. Zwei Veranstaltungen der renommierten deutschen Südosteuropa-Gesellschaft, die an aufeinanderfolgenden Tagen im Februar in Halle an der Saale stattfanden, zeigten, dass es angeraten wäre, sich wieder mehr dieser Region zu widmen.
Bei diesen Veranstaltungen handelte es sich um ein Symposion des Wissenschaftlichen Beirats der Südosteuropa –Gesellschaft mit dem Titel
- „Krise der Demokratie in Südosteuropa: Ursachen und Auswege“ und die Jahreshauptversammlung der Gesellschaft, in deren Zentrum die Podiumsdiskussion
- „Südosteuropa zwischen Erwachen und Ernüchterung – Perspektiven von Autoren aus der Region“ stand.
Bei beiden Veranstaltungen nahmen die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens breiten Raum ein. Der Blick ging jedoch auch nach Albanien, Rumänien, in die Türkei und nach Ungarn. Dieser weite Ansatz und die Kombination von zwei Veranstaltungen unterschiedlichen Zuschnitts erlaubten es, länderübergreifende Tendenzen sowie gemeinsame Muster und Mechanismen herauszuarbeiten.
Ausgangspunkt: Unerfüllte Erwartungen
Ausgangspunkt des Symposions „Krise der Demokratie in Südosteuropa: Ursachen und Auswege“ war der Umstand, dass sich die hohen Erwartungen, die auf dem westlichen Balkan nach den Auseinandersetzungen und Krisen der 1990-er und 2000-er Jahre in Bezug auf einen beschleunigten Demokratisierungsprozess und eine EU-Mitgliedschaft bestanden, bislang kaum erfüllt haben. Gegenwärtig stagniert die Vorbereitung der EU-Erweiterung und der Demokratisierungsprozess ist von einer dauerhaften Krise geprägt.
Die Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen dieses Prozesses wurden nach der Begrüßung durch den Präsidenten der Südosteuropa-Gesellschaft, Staatsminister a.D. Dr. h.c. Gernot Erler, MdB und durch den Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats, Prof. Dr. Wolfgang Aschauer, sowie einer Einführung durch Prof. Dr. Florian Bieber, Zentrum für Südosteuropastudien, Universität Graz, in verschiedenen Referaten, die anschließend intensiv diskutiert wurden, beleuchtet.
Themen des Symposions
Behandelt wurden folgende Themen
- Südosteuropäische Demokratien in der Krise? Vergleichende Perspektiven, Dr. Michael Hein, Humboldt-Universität zu Berlin
- Die Rückkehr der Geschichte. Wie Nationalismus und Autoritarismus die Europäisierung untergraben, Prof. Dr. Nenad Zakošek, Wissenschaftlicher Berater der Friedrich-Ebert-Stiftung, Zagreb
- Neue Formen der autoritären Governmentalität: Vergleich zwischen Serbien, Mazedonien und der Türkei, Dr. Vedran Džhić, Österreichisches Institut für Internationale Politik, Wien
- Demokratische Rückschritte in neuen und zukünftigen Mitgliedsländern: Welche Rolle für die EU?, Dr. Natasha Wunsch, ETH Zürich & Zentrum für Südosteuropastudien, Universität Graz
Demokratie nur als Mittel, nicht als Zweck
Trotz der Verschiedenartigkeit der Themen und Positionen zogen sich einige rote Fäden durch die Referate, die so bei den Zuhörern ein relativ einheitliches Bild bezüglich verschiedener Umstände ergaben.
Dazu gehört der Umstand, dass sich in den südosteuropäische Staaten zunehmend autoritäre Herrschaftsmuster durchsetzen. Diese werden von einem machtpragmatischem Politikertyp bestimmt, für den Demokratie kein Ziel, sondern nur ein Mittel zur Sicherung der eigenen Macht ist. Durch diese Instrumentalisierung der Demokratie, die auch an einer Mischung zwischen Demokratierhetorik und nationaler Symbolik in der politischen Terminologie deutlich wird, stellt auch das Modell einer „Demokratisierung durch EU-Beitritt“ in Frage.
Bezüglich der nationalen Tendenzen wird auch die Geschichte -oder besser: der eigne Mythos, von den Ereignissen der Vergangenheit – manipulativ eingesetzt. Prägend ist weiterhin ein Narzissmus und das Außer-Kraft-Setzen von „checks and balances“ durch Behinderung und Herabsetzung missliebiger Medien und der Justiz. Im Bereich der Wirtschaft vertreten die politischen Eliten darüber hinaus eine kapitalistische und neoliberale Auffassung (und sind nicht selten direkt oder über ihr näheres Umfeld mit der Wirtschaft verbunden). Auch legitimieren sich autoritäre politische Führer sich gerade durch die Perspektive des EU-Beitritt, in dem sie darauf hinweisen, dass sie der einzige seien, der diesen dursetzen könnte.
Für EU sei deshalb die Zeit des „business as usual“ vorbei; notwendig sei auch eine strategische Anpassung von Anreiz- und Sanktionsmechanismus.
„Moralischen Leitplanken“ fehlen
Kritik ernteten jedoch nicht nur die Politiker und die EU, da angemerkt wurde, auch die Bürger hätten sich weitgehend an das System des Klientelismus gewöhnt und sich daran angepasst. Dieser Werteverfall sei dadurch gekennzeichnet, dass die „moralischen Leitplanken“ fehlen und sich deshalb andere „unmoralische“ Verhaltensregeln breit machen würden. Somit gäbe es letztlich keine Gerechtigkeit mehr in der Gesellschaft.
Demokratie kommt nicht zwangsläufig
Diese Entwicklung macht auch westlichen Beobachtern deutlich, dass es – anders als von vielen vielleicht zu Beginn der Transformation angenommen – keine zwangsläufige und lineare Entwicklung hin zur Demokratie gibt. Auch wird
Nach dem Brexit und dem zu erwartenden Rückgang des US-Auslands-Engagements seien zudem, so die Befürchtung von Diskussionsteilnehmern, weitere destabilisierende Prozesse in der Region nicht auszuschließen. Auch könne der Balkan als Hebel genutzt werden, um die EU zu destabilisieren.
Bereits jetzt leiden Meinungsfreiheit und Rechtstaatlichkeit. Außerdem entsteht eine zunehmende Diskrepanz zwischen formalen demokratischen Institutionen und undemokratischen Praktiken.
Bedenkliche Umfrage- und Untersuchungsergebnisse
Die praktischen Auswirkungen dieser Entwicklung zeigte Natasha Wunsch anhand einiger Umfrage- und Untersuchungsergebnisse.

Dabei stellte sie unter Bezugnahme auf den Freedom House Nations in Transition Report 2016 fest, dass Albanien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina sowie Mazedonien im Zeitraum von 2004-2016 demokratische Rückschritte erleiden mussten. Diese waren insbesondere in Montenegro, Bosnien und Herzegowina sowie Mazedonien erheblich und lagen weit unter den Ausgangswerten von 2004.
Unbeschadet dieser bedenklichen Indikatoren vertrat sie jedoch die Auffassung, dass es noch zu früh sei, endgültig festzustellen, dass es zu einem Authoritarian rollback gekommen sei.
EU-Staaten verlieren an Strahlkraft als „role modell“
Thematisiert wurde auch, inwieweit sich die krisenhafte Entwicklung in der EU, die „im desolatesten Zustand seit ihrem Bestehen“ sei, auf den Erweiterungsprozess und die Demokratisierung der südosteuropäischen Staaten auswirkt.
Konsens war hier, dass diese Entwicklung einen mehrfachen Schaden verursacht hat. Dieser besteht nicht nur in der Verzögerung des Beitrittsprozesses der Kandidaten, sondern auch darin, dass die EU-Staaten als „role modell“ an Strahlkraft verloren haben. Dadurch aber wird auch die Demokratie als Ziel für die Bürger der südosteuropäischen Staaten weniger attraktiv
Auch positive Aspekte
Hervorgehoben – aber unterschiedlich bewertet – wurden auch positive Aspekte. So wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass Teile der Jugend sich den Werten westlicher Demokratien verpflichtet fühlen würden und auch positive Ansätze im Nicht-Regierungssektor bestehen würden
Journalistenpreis für Taz-Mitarbeiter
Bei der Eröffnung der Jahreshauptversammlung der Gesellschaft am Folgetag sprachen Dr. Manja Hussner, Direktorin des International Office, Martin-Luther -Universität Halle-Wittenberg und Christiane Hullmann, Auswärtiges Amt, Berlin, Grußworte.
Nach dem Bericht über die Tätigkeit der Gesellschaft im Jahr 2016 auch zwei Preise verliehen.

Der Journalistenpreis der Südosteuropa-Gesellschaft wurde Erich Rathfelder, der seit 1985 u.a. für die Tageszeitung „Taz“ aus dem Balkan berichtet, zuerkannt.
Er kritisierte in seinen Dankesworten die Logik der Dayton-Verfassung, die vor allem auf nationalen Kategorien aufbaue. Dadurch gehe sie an der Lebenswirklichkeit in Bosnien und Herzegowina, vorbei, wo es beispielsweise in Sarajevo vor dem Krieg einen erheblichen Prozentsatz (Rathfelder spricht von 40 %) von Familien gab, die nicht eindeutig einer bestimmten Volksgruppe zuordenbar waren.
Negativ an der Dayton-Verfassung sei auch, dass sie zu einer neuen Generation geführt habe, die nichts anderes kenne als in den nationalen Kategorien dieser Verfassung zu denken.
„Jeans-Sozialismus“ in Ungarn, „Credit Card Socialism“ in Jugoslawien
Weiter wurde der Förderpreis der Fritz und Helga Exner-Stiftung an Frau Dr. Fruzsina Müller, Leipzig, für deren Dissertation über die Rolle von Konsum und Mode im ungarischen Sozialismus vergeben.
Diese wird demnächst unter dem Titel „Jeans-Sozialismus“ erscheinen. Deutlich wird an dieser Arbeit, so die Laudatio, dass Konsum und Mode im Sozialismus immer ein ideologischer Drahtseilakt für die Partei waren. Hierbei lässt die Arbeit ausdrücklich offen, ob Konsum und Mode das System eher destabilisiert oder untergraben haben.
Im Zusammenhang mit der Haltung der verschiedenen sozialistischen Staaten zum Konsum wurde bei der Ehrung übrigens daran erinnert, dass die New York Times in den 1970-er Jahren das jugoslawische System als „Credit Card Socialism“ bezeichnet hatte, während das ungarische System gemeinhin „Gulaschkommunismus“ genannt wurde.
Podiumsdiskussion „Südosteuropa zwischen Erwachen und Ernüchterung“
An diese Ehrungen schloss sich die Podiumsdiskussion „Südosteuropa zwischen Erwachen und Ernüchterung – Perspektiven von Autoren aus der Region“ an. Diskutanten der von Hana Stojic, traduki, Berlin, moderierten Veranstaltungen waren
- der 1974 in der albanischen Hafenstadt Durrë geborne, heute in Wien lebende Autor und Übersetzer Ilir Ferra,
- die 1950 in Jablanitza /Bulgarien geborene Diplomatin, Autorin und Übersetzerin Fedia Filkov, die heute in Sofia lebt und
- Dževad Karaha, 1953 in Duvo geborener Schriftsteller, Dramatiker, Essayist, Dramaturg und Literaturwissenschaftler
Gradwanderung zwischen homo poeticus und homo politicus
Bei dieser Diskussion begaben sich die Literaten auf eine „Gradwanderung zwischen homo poeticus und homo politicus“ (Staatsminister a.D. Erler in seinem Resümee).
Im Mittelpunkt stand hierbei u..a. auch das Verhältnis zwischen Gruppe und Individuum bzw. die Frage, inwieweit die Zugehörigkeit zu einer gewissen nationalen Gruppe politisch im Vordergrund stehen sollte.
Diesbezüglich wurde darauf hingewiesen, dass ein Mensch mehreren Gruppen – vom Geschlecht über die berufliche Position und vielfältige weitere Merkmale – angehöre, so dass sich seine Individualität aus der jeweiligen Mischung dieser Eigenschaften, die jeweils auch Gruppenzugehörigkeiten sind, ergibt. Eine Reduzierung auf eine dieser vielen Zugehörigkeit würde die Individualität in Frage stellen.
Vergangenheitsfälschung ist Gotteslästerung
Im Zusammenhang mit dem Gebrauch bzw. Missbrauch der im eigenen Sinne manipulierten Vergangenheit für politische Zwecke wurde die These aufgestellt, dass diese aus Sicht einer strengen religiösen Auffassung Gotteslästerung darstellen würde, da die Abänderung der Vergangenheit selbst Gott nicht möglich sei. Wer es sich also anmaße, die Vergangenheit in seinem Sinne zu verändern bzw. zu verfälschen, stelle sich über Gott.
„Angriff der Zivilgesellschaft auf die Zivilgesellschaft“
Im Rahmen dieser Diskussion wurden auch Themen der vorherigen Veranstaltungsteile angesprochen.
Beispielsweise bestätigte Karaha , die Kritik an der Dayton-Verfassung. Dieses Abkommen leugne seiner Auffassung nach die Existenz einer nicht national besetzten Kategorie „Bürger“.
Anders als die Vorredner bewertete er jedoch die Rolle der Zivilgesellschaft. Während am Vortrag die Demonstrationen des kurzen „Bosnischen Frühlings“ im Jahre 2104 noch als positives Beispiel einer demokratischen Orientierung der Zivilgesellschaft angesehen wurden, ginge er auf Distanz zu den damaligen Demonstranten und erinnerte daran, dass diese auch ein Staatsarchiv angezündet hätten. Dies sei ein „Angriff der Zivilgesellschaft auf die Zivilgesellschaft“.
Mehr Aufmerksamkeit erforderlich
Die Südosteuropa-Gesellschaft bot zwei inspirierende Tage, die zeigen, dass Westeuropa allen Grund hat, Südosteuropa, und damit auch das ehemalige Jugoslawien, seine Aufmerksamkeit zu widmen.
Die gut organisierten Veranstaltungen zeichnete ein ernüchterndes Bild nicht nur der Situation in Südosteuropa, sondern auch vom Zustand der EU. Es wurden jedoch auch positive Ansätze hervorgehoben, so dass man sich nicht nur in der derzeit weitverbreiteten Schwarzmalerei erging.
Überzogene Erwartungshaltung?
Leider wurde eine entscheidende Frage in der Diskussion nicht gestellt:
Die Frage nämlich, ob ein Teil der gegenwärtigen Enttäuschungen nicht der eigenen naiven Herangehensweise und der überzogenen Erwartungshaltung geschuldet ist. Die Annäherung der südosteuropäischen Staaten an die EU und deren innere Demokratisierung ist nämlich eine Aufgabe, die vermutlich nicht in wenigen Jahren zu bewerkstelligen ist. Vielleicht benötigt die Erreichung dieser Ziele ja eine ganze Generation? In diesem Falle muss die Unterstützung vor allem auch die nachwachsende Generation erfassen.
Zeit des business as usual ist abgelaufen
Insgesamt dürfte das wesentliche Ergebnis der Veranstaltungen in Halle sein, dass die Zeit des business as usual für alle Beteiligten abgelaufen ist. Sowohl die politischen Akteure in den Staaten Südosteuropas wie die EU, aber auch die Bürger selbst, müssen ihre Verhaltensweisen ändern und sich aktiver für eine tatsächliche Demokratisierung einsetzen, wenn sich die gezeigten Tendenzen nicht noch verstärken sollen.
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