Die Situation der Flüchtenden an der kroatischen EU-Außengrenze macht einen sprachlos. Auch deshalb, weil man in Bosnien und Herzegowina, wo viele Menschen während des Krieges innerhalb des Landes oder in das Ausland geflüchtet sind, normalerweise viel Verständnis und Mitgefühl für Flüchtende besitzt.
Wie aber kamen die Menschen aus Nordafrika bis an die Grenze bei Bihać? Wir haben vor einigen Monaten die letzte Etappe dieses langen Weges mit solchen Flüchtenden zurückgelegt. Eher zufällig, als wir auf einer Dienstreise von Terminen in Sarajevo weiter nach Banja Luka mit dem Zug reisten. Eine bemerkenswerte Zugfahrt.
Bahnhof in Sarajevo, fast vier Jahrzehnte später
Mehr als 30 Jahre sind eine lange Zeit. Das wird einem bewusst, wenn man nach diesem Zeitraum zum ersten Mal wieder von einem Bahnhof abfährt, zu dem einen Wege aus diesen und jenen Gründen in der Zwischenzeit nicht geführt haben. In meinem Fall war das der Bahnhof in Sarajevo.
Beim Näherkommen ein Wiedersehen mit dem großzügig angelegten Bahnhof, den ich damals, kurz nach der Winterolympiade 1984, kennengelernt hatte, als die Stadt noch multikulti war, lange bevor es diesen Begriff gab, und gefühlsmäßig noch auf der Heckwelle dieses internationalen Ereignisses segelte.

Bei dieser Gelegenheit: Schönen Gruß an Vučko, das wohl nachhaltigste Olympia-Maskottchen aller Zeiten!

Es war also zu erwarten, dass einiges anders sein würde. Und so war es auch: In den achtziger Jahren befanden sich in der meist quirlig belebten Schalterhalle viele kleine Ladenlokale, die Waren und Dienstleistungen anboten.

Heute herrscht unter zwei großen Wandgemälden, die hoch oben an den Stirnseiten der Halle Werbung für ein US-amerikanisches Süßwassergetränk machen, gähnende Leere.
Nur einige Kaffeehaustische, die meisten davon nicht belegt, stehen verloren herum. Man ist sich ziemlich sicher, dass man diejenigen, die dort sitzen, wenig später im Zug wiedersehen wird. Die meisten Geschäftslokale, die noch tatsächlich in Betrieb sind, gehören Agenturen, die Fahrkarten, auch ins Ausland, verkaufen, für Fahrten mit dem Bus! Deutlicher als durch diese Übernahme des Bahnhofsgebäudes durch die Konkurrenz kann man den Niedergang der Eisenbahn eigentlich kaum symbolisieren. Den Zugfahrplan findet man an eher versteckte Stelle. Mit elf Verbindungen am Tag ist er zudem relativ übersichtlich. Internationale Verbindung ist keine mehr darunter.

Der kahle Durchgang zum Bahnsteig ist an Fußboden und Wänden mit marmorierten Platten ausgelegt. Die einzigen Farbklecks in diesem tristen Tunnel stammen von Graffiti. Selten wird einem anschaulicher vor Augen geführt, dass solche Wandmalereien nicht unbedingt Sachbeschädigung sein müssen, sondern in allzu trister Umgebung auch positive Wirkungen auf Menschen haben können.
Talgo-Zug mit Tücken
Positiv dagegen ist auch das, was einen am Bahnsteig erwartet. Dort steht ein hochmoderner Talgo-Zug, der Komfort verspricht.

Einen Haken hat die Sache jedoch: Die Tür zum Wagen 1, in dem wir unsere Sitzplatzreservierung haben, lässt sich trotz einiger Versuche nicht öffnen. Ich versuche es am nächsten Wagen. Auch hier zeigt das Knopfdrücken keine Reaktion. Anders ich selbst: Da die Zeit zur Abfahrt eng wird, werde ich nervös. Als ich mit meinem schweren Gepäck, einem Rollkoffer, bei dem kurz zuvor ein Rad abgebrochen war, einem Pappkarton mit Büchern und einem Rucksack, zu Wagen 3 aufmachen will, sehe ich, dass man mir einige Wägen weiter vom Bahnsteig aus zuwinkt. Dort stehen einige Schaffner vor einer geöffneten Tür. Ich gebe Gas und komme prustend bei ihnen an.
Einer von ihnen kontrolliert zentral an dieser Stelle die zusteigenden Passagiere. Als ich darauf hinweise, dass der Weg durch den Zug mit diesem Gepäck doch etwas beschwerlich wäre, nimmt mir ein zweiter Schaffner den Koffer ab und zieht ihn zwei Wägen weiter nach unten. Dann öffnet er mit einem Schlüssel die bislang abgeriegelte Tür und mir bleibt es nicht erspart, mich für den Rest des Weges mit meinem Gepäck zu meinem Sitzplatz durchzukämpfen.
Diese Zugverbindung ist aufgrund der komplizierten innenpolitischen Verhältnisse etwas Besonderes. Das Land besteht nämlich aus zwei sogenannten Entitäten, Teilstaaten, die weitreichende Zuständigkeiten und auch jeweils eine eigene Eisenbahn besitzen. Da Sarajevo und Banja Luka in verschiedenen Entitäten liegen, musste bis zur Einführung dieser Verbindung an der Grenze zwischen diesen Entitäten, die Lok gewechselt werden. Im Krieg standen der Anfangs- und der Endpunkt dieser Reise für die beiden unterschiedlichen Kriegsparteien. Und auch heute noch ist das Verhältnis zwischen den dort jeweils vorherrschenden politischen Kräften äußerst gespannt. Dass dieser Zug überhaupt fährt hat also eine erhebliche symbolische Bedeutung. Unterstrichen wird die dadurch, dass die Talgo-Züge als „BH-Züge“ bezeichnet werden. (Die Abkürzung bezeichnet natürlich kein Damenunterbekleidungsstück, sondern steht für den Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina.)
Heruntergekommene Trasse bremst Zug
In meinem Wagen werde ich mit einem breiten, verstellbaren Liegesessel mit Stromanschluss belohnt. Nach einigen Hin und Her gelingt es mir auch den Tisch aus der Sitzlehne herauszuklappen. Bequem wie in Omas Fernsehsessel sitze ich nun mit dem Laptop vor mir und genieße den Blick auf den winterlichen Abendhimmel über den Bergen von Sarajevo.
Ich kann mir Zeit lassen beim Betrachten, da sich der moderne Zug wegen auf der seit Jahrzehnten nicht gepflegten Trasse nur gemächlich vorwärts bewegen darf.
Das Display am Ende des Wagens zeigt in großer grüne Schrift Geschwindigkeiten an, die man als Fahrradfahrer ohne große Kraftanstrengung auch über längere Zeit hinweg fahren könnte.

Auf einem Teilstück, auf dem die Straße parallel zur Schiene verläuft, werden wir sogar von einem Schwertransport mit Polizeieskorte überholt.
Mehr als 72 km/h werde ich während der gesamten Fahrt, die fünf Stunden und ein paar Minuten dauern wird, auf diesem Display nicht lesen können. Man bekommt also viel Bahnfahrt für die 46 KM (ca. 23 €) die diese Fahrt in der ersten Klasse kostet. Die Strecke zwischen Sarajevo und unserem Banja Luka beträgt übrigens 190 Kilometer. Mit dem Auto schafft man es jedoch ebenfalls nicht unter vier Stunden, da die Straßenverbindungen vielbefahren und ebenfalls nicht im modernsten Zustand sind. Theoretisch könnte der Zug, der eine Höchstgeschwindigkeit von 220 km/h besitzt, die Strecke in einem Fünftel der Zeit fahren. Viel wäre schon erreicht, wenn die Züge heute so schnell fahren könnten, wie ihre Vorgänger in den 1980er Jahren auf dem damals noch nicht so heruntergekommenen Streckennetz taten. Damals sollen die Züge hier in der Region doppelt so schnell gewesen sein wie heute.
Eine bemerkenswerte Fahrkarte
Der Schaffner kommt und will nochmals meine Fahrkarte sehen. Meine erstaunte Nachfrage quittiert er mit dem Hinweis, dass er die Fahrkarten zwar beim Einsteigen angesehen, aber nicht entwertet hätte. Jetzt zwickt er mit großem Ernst und einer viel kleineren Zange das dünne Durchschreibepaper. Anders als von mir angenommen ist das Ergebnis kein Loch, sondern eine Prägung genau in einem für den Stempelabzug vorgesehenen Kreis. Das ist nicht das einzige Auffallende an dieser Fahrkarte.

Da ist der Umstand, dass es überhaupt noch Fahrkarten gibt, die auf Durchschreibepapier teils mit vorgefertigten Stempeln (mit dem Namen des Abfahrtsbahnhofes und mit dem Ausstellungsdatum), teils handschriftlich (alle anderen zu individualisierenden Angaben) erstellt werden.
Und dann ist da die hervorgehobene Bezeichnung als „Interentitätsfahrkarte“, die belegt, dass eine solche Linie nicht als Selbstverständlichkeit angesehen wird. Damit belegt diese Karte auch, wie gespalten dieses Land noch heute ist.
Ein anderes Merkmal hat eher humoristischen Charakter: Auf der Karte ist angekreuzt, dass es sich um einen Schnellzug handelt. Angesichts einer Durchschnittsgeschwindigkeit von gerade einmal 38 Kilometern eine erstaunliche Feststellung!
Entrückte Atmosphäre und skurrile Gedanken
Lange Zeit gehört das Erste Klasse-Großraum-Abteil, das eine halbe Wagenlänge einnimmt, mir alleine. Ich studiere weiter den Wechsel der Geschwindigkeit auf dem Display, auf dem auch schon einmal einstellige Zahlen stehen, und gewöhne mich an das häufige Warnsignal der Zugsirene.
Zwischenzeitlich ist es draußen dunkel geworden. Der Blick durch das Fenster offenbart einen Mann in Anzug und Krawatte, der irgendwo im Universum alleine im fahlen Licht eines Zugabteils mit tiefschwarzem Fenster sitzt. Wäre das ein Gemälde, so könnte man es als bislang unbekanntes Bild von Edward Hopper unter dem Titel „Nighthawk on the Train“ bei Sotheby’s anbieten. Möglich ist aber auch, dass das Fenster einen Blick auf ein Paralleluniversum freigibt, in dem gerade ein spiegelverkehrtes anderes Ich von mir mit einem Nachtzug durch eine menschenleere Gegend fährt.
Die entrückte Atmosphäre ist ein guter Nährboden für merkwürdige Gedanken!
Mal sehen, wie lange es dauert, bis mich das monotone Schaukeln in einen frühkindlichen Zustand zurückversetzt! Ich genieße es, unverhohlen in den Raum hinein zu gähnen und lasse Laptop, Bücher und alte Zeitungen, die griffbereit in dem Rucksack im weitläufigen Zwischenraum zum nächsten Sessel liegen, unberührt. Buchstaben schweben durch den Raum wie endloser Regen in einen Pappbecher, schlittern, auf ihrem Weg hinaus in das Universum und bilden dabei das Wort „Eisenbahnnirwana“.
Was macht ein Möbelstück im Zug?
So ganz habe ich den Kontakt zur Wirklichkeit allerdings nicht verloren. Mir fällt auf, dass vor der (leeren) ersten Sitzreihe ein auf Sitzfläche und Rückenlehne mit schwarzen Stoff überzogener Metallstuhl steht, wie man ihnen in Wartezimmern und Besprechungsräumen findet. Wie mag dieses normale Möbelstück in den Zug gekommen sein? Hat das jemand mitgenommen und hier vergessen?
Abstecher in die Bar
Um mich nicht ganz im Sinnieren zu verlieren, beschließe ich einen Abstecher in den Buffetwagen, der hier verheißungsvoll “Bar“ heißt. Meinen Rucksack nehme ich mit, um Koffer und Bücherkiste mache ich mir keine Sorgen.
Zuerst durchquere ich einen vollkommen leeren weiteren Halbwagen erster Klasse, dann geht es durch einen Gang mit verschlossenen Schlafwagenabteilstüren, der leicht als Kulisse für die Unteroffiziersunterkünfte bei der Raumpatrouille Orion dienen könnte.

Dann geht es durch einen weiteren Erste Klasse-Wagen, in dem gerade einmal fünf Männer sitzen (Frauen habe ich in diesem Zug auf der ganzen Reise nicht gesehen).
Dann bin ich in der „Bar“. Die heißt bewusst so, weil es hier nicht einmal Sandwiches gibt, nur Schokolade, Salzgepäck und Waffeln. Das Essen wird also bis Banja Luka warten müssen. Mit einem zweifelnden Blick auf die Vitrine, in der sich nur alkoholfreie Getränke befinden, frage ich, ob es Bier gibt. Der Kellner meint kurz angebunden, dass sich das wohl finden lassen würde und stellt mir nach einem routinierten Griff in den Kühlschrank eine Flache Laško-Pivo aus Slowenien hin. Dabei blickt er mich stolz an. Meine wenig begeisterte Feststellung „Sie haben nur Laško?“ überrascht ihn, da er offensichtlich eine andere Reaktion erwartet hatte. “Wir haben auch Sarajevsko pivo“ meint er entschuldigend.
Ich werde zum „Slowenen vom Nürnbergring“
Ich nicke zustimmend. Er blickt erstaunt, sagt aber nichts. Wieder einmal bin ich wegen meines Akzents für einen Slowenen (für die das Serbokroatische ebenfalls eine Fremdsprache ist, die sie allerdings wegen der Nähe zur eigenen Sprache und der gemeinsamen Vergangenheit in einem Staat meist beherrschen) gehalten worden.
Ich frage ihn: “Sie denken bestimmt, ich bin aus Slowenien“?“. Er nickt.
Der Sicherheitsmann am Tresen fragt, woher ich den wirklich käme.
Der Schaffner mit dem Oberlippenbart, der jetzt seine Mütze abgelegt hat und sich gar nicht mehr so förmlich gibt, rät mit, muss dann aber seinen Pflichten in der noch nicht kontrollierten 2. Klasse nachgehen. Nachdem die üblichen Verdächtigen (Slowake, Tscheche, Pole) aufgezählt wurden, löse ich auf. Worauf mich der Sicherheitsmann in einem Deutsch, das grammatikalisch weit davon entfernt ist, perfekt zu sein, aber sehr flüssig und verständlich daherkommt, fragt, aus welcher Stadt genau ich sei. Als ich sage, dass ich in Nürnberg geboren bin, ist er begeistert. Sein Deutsch verdanke er vor allem Sportsendungen auf Prosieben und anderen Sendern, erzählt er. Und die Auto-Rennen auf dem “Nürnbergring“ würden ihn besonders faszinieren.
Bevor ich dazu komme, das Missverständnis aufzuklären und den Unterschied zwischen Nürburgring und Nürnberg zu erläutern, kommt der Schaffner aus den zweite Klasseabteilen zurück und ruft dem Sicherheitsmann zu „Neko puši („Jemand raucht“).
Schaffner und Sicherheitsmann, beide nun mit den Mützen wieder auf dem Kopf, verlassen eilig die Bar in Richtung Tatort.
Der Bar-Wagen bleibt nicht lange her. Aus Richtung der 2.-Klasseabteile kommen nun drei dunkelhäutige junge Männer, einer im Hoody, ein anderer hat die Wollmütze noch auf den Kopf, und fragen nach Cola und Kaffee. Der Kellner serviert beides professionell, nicht unfreundlich, aber im Vergleich zu meiner Bestellung doch merklich desinteressiert.
Trotzdem entwickelt sich zwischen dem Kellner und den Gästen der Ansatz einer Unterhaltung in englischer Sprache. Sie möchte von Bosnien und Herzegowina nach Kroatien und eines der beiden Länder sei gut, das andere schlecht, sagen sie, ohne dass klar wird, welches jetzt gut oder schlecht ist. Außerdem möchte man normalerweise ja vom Schlechten in das Gute. Deshalb frage ich nach, ob es nun Kroatien oder Bosnien und Herzegowina das schlechte Land sei. Er stellt richtig: „For people from Arabic countries Bosnia very good, Croatia bad“.
Jetzt fragt ihn der Barmann „Why want to Croatia, if Bosnia good?“
Er antwortet: „Croatia EU, Bosnia No“
Der Kaffee und die Cola sind getrunken, unsere Gesprächspartner verabschieden sich und lassen den Barmann und mich alleine zurück. Es dauert nicht lange, dann kommt ein neuer Gast, ebenfalls aus Richtung der 2. Klasseabteile, wiederum ein Nordafrikaner. Nicht ungepflegt, aber man sieht seiner Kleidung an, dass er wohl weniger zum Wechseln bei sich hat, als seine nordafrikanischen Landsleute von eben. Seine Hände haben eine bläulich rote Färbung, so, als ob er gerade aus der Kälte kommend eingestiegen wäre.
Er fragt vor der Bestellung, was die Dinge kosten. Die Packung mit Waffeln findet er zu teuer, merkt aber schnell, dass er hier mit dem Kellner nicht verhandeln kann.
Dann fragt er nach dem Preis für einen Kaffee. Der Keller sagt „two marks“ (etwa ein Euro).
Der Gast hält entschuldigend einen 10 Euro-Schein hoch, der Kellern nickt, stellt einen Kaffee hin und gibt 16 KM, also etwa acht Euro statt neun, heraus. Der junge Mann wirft einen fragenden Blick darauf, sagt dann „two marks? „, der Kellner „provizija“.
Und setzt dann, als der Mann verständnislos schaut, hinzu: „Here Bosna, no Euro, you pay Euro, money change costs for Euro two marks“
Ich reise zu lange auf dem Balkan, um über dieses Vorgehen des Kellners überrascht zu sein, ärgere mich aber dennoch und sage dem Kellner in Landessprache, dass ich mein Bier und den Kaffee des jungen Mannes zahlen möchte.
Der Kellner gibt das in Englisch an den jungen Mann weiter, der auf mich zutritt und sich freundlich bedankt. Ich möchte ihm die Hand geben, er zuckt zurück, grüßt mich, indem er die rechte Hand mit Andeutung einer Verbeugung auf seine linke Brust, dorthin, wo das Herz ist, legt. Ich bin zuerst irritiert, dann fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren: Das mit der Hand als Gruß wird nicht überall gerne gesehen. Vor allem, wenn diese Hand vorher eine Bierdose gehalten hat.
Bob Marley raucht verbotenerweise im Zug
Während ich meine interkulturelle Kompetenz hinterfrage, kommen der Schaffer und der Security Man zurück. Der Kellner fragt: „Wer hat geraucht?“
Darauf der Sicherheitsmann: „Bob Marley“
Der Kellner: „Ach so, Bob Marley“
Ich: „War es wenigstens Gras?“
Der Sicherheitsmann: „Das war doch nur wegen der Frisur“.
Ich gehe zurück in meinen Wagen. Als ich dort von diesem Ausflug in eine andere Welt (eigentlich war es gleich mehrere) zurückkomme, bin ich nicht mehr alleine im Wagen und das Rätsel des Stuhls ist auf einmal gelöst. In einem der Sessel in der ersten Reihe, der mit dem ganz großen Fußraum, hat es sich ein Bahnangestellter gemütlich gemacht. Lang ausgestreckt liegt er dort, seine Füße auf dem Stuhl.
Es ist hörbar, dass er schläft. Mir ist es recht. Umso ungehemmter diktiere ich jetzt mit meiner Spracherkennungssoftware einen längst fälligen Bericht.
Je länger wir fahren, desto schlechter scheint die Strecke zu werden. Bei der Abfahrt aus einem Bahnhof, ich denke es war Doboj, komme ich mir vor wie auf einem Schiff, das gerade von Backbord harte Wellen abbekommt. Ein stampfendes Bumm-Bumm-Bumm scheint gegen die Außenwand zu schlagen, bis der Zug sich, ähnlich wie ein Flieger, der nach unruhigen Winden in Bodennähe die Reiseflughöhe endlich erreicht hat, freifährt und mit relativ konstanten 55 km/h im üblichen Blues-Shuffle lang-kurz, lang-kurz seinem Ziel entgegenstrebt.
Irgendwann brauche ich für meinen Bericht eine Information, die ich nicht zur Hand habe, Internet wäre jetzt nicht schlecht. Der Zug soll WLAN haben, ich komme aber nicht rein. Den schlafenden Bahnerer will ich nicht wecken, deshalb such ich den Schaffern
Brotzeit in der Bahn-Bar
Der sitzt in der Bar am Tresen vis-a-vis dem Kellner gegenüber. Beide genießen ihr selbstmitgebrachtes Abendessen: In Scheiben geschnittene Hartwurst liegt zwischen ihnen, das unvermeidliche Weißbrot und eine Tupperbox mit eingelegtem Kraut, aus der einladend eine Gabel herausragt.
„Internet? Vergiss es!“ lautet die kurze Antwort. „Ab Banja Luka wieder“.
Hilft mir nichts, da steige ich aus, denke ich. Ich überlege, ob ich mir ein noch Bier gönnen sollte, wenn ich schon einmal da bin, lasse es aber dann, weil ich mir so vorkäme, als würde ich mich zu einem fremden Ehepaar zuhause zum Abendbrot ungebeten dazu setzen, wenn ich in der Bar bleiben würde.
Auf dem Weg zurück zu meinem Platz komme ich an der geöffneten Klappe der Technik meines Wagens vorbei. Irgendwie muss sie wohl aufgegangen sein und ermöglichte nun Einblicke in die Fahrzeugtechnik.

Irgendwann sind wir dann in Banja Lula. Ich bekomme es gerade noch rechtzeitig mit, da die Uhrzeit, die in meinem Wagen auf dem Display angezeigt wird, diejenige von einer Stunde vorher ist, hatte ich noch nicht damit gerechnet. Aussteigen kann man wiederum nur an einer Tür. Deshalb muss ich mich mit dem ganzen Gepäck wiederum durch den ganzen Zug quälen. Am Bahnsteig steht eine Gruppe Polizisten.
Ich erscheine ihnen unverdächtig und darf ohne weiteres passieren. Von den Nordafrikanern, wegen deren sie wohl hier sind, steigt keiner aus. Ihr Ziel ist Bihać. Seit 2016, als die Zugverbindung Sarajevo-Zagreb eingestellt wurde, weil man sich mit der kroatischen Bahn nicht über Finanzfragen bezüglich dieser grenzüberschreitenden Line einigen konnte, enden dort alle bosnischen Züge in Richtung Westen. Die Flüchtenden werden dann wohl versuchen, zu Fuß in die EU zu kommen.
Fazit
Für bosnisch-herzegowinische Verhältnisse ist dieser Zug reinste Science Fiction und seine Anschaffung zeugt von einem Weitblick, den leider wenige politische Verantwortlichen hier haben. Unter anderem, weil dieser Zug auch zwei politisch konträr „tickende“ Großstädte des Landes verbindet. Dass er nicht so genutzt wird, wie es möglich wäre, hat mit Gewohnheiten zu tun, die wir auch ein Deutschland kennen: Man setzt sich als Zeichen der eigenen Unabhängigkeit lieber vier Stunden unproduktiv hinter das Steuer, als fünf Stunden selbstbestimmt und entspannt mit dem Zug zu reisen. Reisen im besten Sinne des Wortes.
Dieser Zug bleibt aber weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Gäbe es ein intaktes Schienennetz, dann könnte dieser Zug mehrfach am Tag zwischen Sarajevo und Banja Luka hin- und herpendeln. Damit bietet er auch eine Gelegenheit, ein Stück möglicher deutscher Bahnzukunft, die keiner will, zu erleben: Die Verbindung von wirkungsloser moderner Hardware auf maroden Schienen.
Gleichzeitig gibt eine Reise mit diesem Zug Einblicke in die soziale und politische Wirklichkeit im heutigen Europa und das Schicksal der Flüchtenden. Selten waren die Wörter „1. Klasse“ und „2. Klasse“ so mehrdeutig wie hier.
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