Marina Abramović in Bonn: Verstörender Blick (auch) auf den Balkan

 Kultur im Sozialismus bunter als man denkt

Sozialistische Staaten waren im Inneren „bunter“ als man sich das im Westen wohl vorgestellt hätte.

Für den Ostblock kann man diese Behauptung anhand des  tschechoslowakischen Films „Tausenschönchen“ (Sedmikrásky) der  tschechischen Regisseurin Věra Chytilová überprüfen .

Wenn man diese durchgeknallte Komödie ansieht, kann man sich nur schwer vorstellen, dass der Film aus dem Jahr 1966 stammt und gedreht wurde, als es beispielsweise das Album „Revolver“ der Beatles, geschweige denn deren ebenfalls absurden Film „Magical Mystery Tour“, noch nicht gab!

Noch radikaler wurde die westliche Fehlvorstellung von der durchwegs „artigen“ und staatstragenden sozialistischen Kunst jedoch von einer Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien (die dieses allerdings verließ und den Westen ging) gebrochen: Marina Abramović.

Angst und Unbekanntes führen zu Neuem

Nun hat man in Bonn in der Bundeskunsthalle bis 12. August 2018 Gelegenheit, deren Wirken in einer Ausstellung kennenzulernen.

Diese Ausstellung werden manche nicht mögen, einige werden sie sogar abstossend finden, mit Sicherheit aber wird sie keinen Besucher gleichgültig lassen.

Und: Sie bietet eine sehr eigenständige Sichtweise auf die Welt im Allgemeinen, insbesondere aber auch auf die Kultur(en) auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens.

Ihren Ansatz formulierte Abramovic in einem Interview so:

Wenn man Dinge tut, die einen ängstigen, unbekannt sind, das ist eine sehr große Chance zu einem wirklichen Wandel.

Herauskommen sind, auf diese Weise, so eine  Bewertung

bahnbrechende Performances, mit denen sie immer wieder die eigenen psychischen und physischen Grenzen auslotet.

Kunst, die von „Körper“ kommt

Der Schweizer Sender SFR formulierte, in einem Beitrag, der zu „Sieben grosse Auftritte zum 70. Geburtstag der Performancekünstlerin“ verlinkt ist:

Kunst kommt von Können? Ihre Kunst kommt von Körper. Und von Knochenarbeit. Marina Abramović hat sich nie geschont. Auch ihr Publikum bringt sie an seine Grenzen.

Auch in der Bonner Ausstellung wird viel Körperliches geboten, nicht nur im Foto oder in Filmvorführungen, sondern auch „live“.

So „entpuppen“ sich lebensgroße unbewegliche Figuren eines nackten Paars, zwischen denen man sich hindurchzwängen kann, als echt.

Für die Besucher ist es ein Moment der Erfahrung, wenn man dies erst bemerkt, wenn man den Performern schon so nah gekommen ist, wie man das in einer normalen Biografie im Laufe seines Lebens nur bei ganz wenigen Menschen (und dann meist nur „eins zu eins“ und keineswegs im öffentlichen Raum) tut.

Die eben genannte Schweizer Website beschreibt diese Situation so:

Sie stehen sich im Eingang zu einer Galerie gegenüber und lassen dem eintretenden Besucher ein wenig zu wenig Raum, um durchzukommen. Da ist entweder sein Penis im Weg. Oder ihr Busen. Hier steht die Frage im Zwischenraum: Wen berühren?

Abramovic Bonn (30) 

Gewalt als Thema, aber auch selbst freiwilliges Objekt der Gewalt

Ein weiteres Thema bei Abramovic, das oft auch mit dem der eigenen Körperlichkeit verbunden wird, ist die Gewalt.

In ihren Arbeiten in den 1990ern beschäftigt sie sich ausdrücklich mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens und der dabei eruptierden Gewalt, so zum Beispiel in der Performace Balkan Baroque.

Performance Balkan Baroque lief über einen Zeitraum von vier Tagen, an denen die Künstlerin jeweils sechs Stunden auf einem Berg aus 1500 frischen, teilweise noch blutigen Rinderknochen saß und diese mit einer Bürste und Wasser aus einem Kupfereimer und einer Kupferwanne von den noch vorhandenen Fleischresten reinigte. Sie sang dabei durchgehend jugoslawische Volkslieder, wobei sie jeden Tag jeweils ein Totenlied aus den unterschiedlichen Teilrepubliken wählte.

Aber auch frühere Arbeiten lassen sich mit dem Balkan in Verbindung bringen. So bot sie sich 1974 den Zuschauern einer Performance zusammen mit Werkzeuge und Waffen, darunter Sägen,  Hämmer und Äxte, aber auch eine Pistole an, mit denen die Zuschauer sie malträtieren konnten – was sie auch taten.

Sie machte sich damit zum Objekt und testet aus, was andere machen, wenn ihnen jemand als Objekt „angeboten“ wird. Somit war diese Performance auch eine Blaupause für das, was viele, vor allem Frauen, dann keine zwei Jahrzehnte später während der Jugoslawienkriege erleben mussten.

Beschreiben durch „ Erleben lassen“

Diese Performances haben zugegeben etwas Verstörendes, bringen einem aber gerade die  eigentlich unbeschreiblichen Seiten der Realität näher als jede Kunstform dies könnte . (Einmal abgesehen von der „Pfählungsszene“ in dem Roman „Die Brücke über die Drina“ von Ivo Andrić, die zu Recht als eine „eine der grausamsten Szenen der Weltliteratur, gehalten im Ton unaufgeregter Anschaulichkeit“ bezeichnet wird.):

Mut, zu verstören

Auch in ihren späteren Arbeiten kam sie wieder auf ihre Heimat zurück, dieses Mal wieder unter dem Aspekt der Erotik.

In dem Film „Balkan Erotic Epic“ befasst sie sich mit Sexual- und Fruchtbarkeitsriten auf dem Balkan. Wikipedia schreibt dazu

In verschiedenen Einzelszenen erklärt Abramović verschiedene Riten, abwechselnd mit Szenen, bei denen beispielsweise Frauen ihre Brüste in die Sonne oder ihre Vulva in den Regen halten oder Männer im Freien masturbieren oder den Boden penetrieren.

Wir waren mit unserer 17-jährigen Tochter in der Ausstellung. Ihr Kommentar: „Was fehlt der denn?“

Mut und die Bereitschaft, andere mit unangenehmen Wahrheiten und Bildern zu konfrontieren, fehlen Marina Abramović jedenfalls nicht.

 

English translation

Marina Abramović in Bonn: Disturbing view (also) of the Balkans

Culture under socialism more colourful than you might think

Socialist states were more „colourful“ at home than many would have imagined in the West.

For the Eastern Bloc, this can be verified with the Czechoslovak film „Daisies“(Sedmikrásky) by the Czech director Věra Chytilová .

Looking at this crazy comedy, it is hard to imagine that the film was made in 1966, when the Beatles‘ album „Revolver“, for example, did not exist yet, let alone their equally absurd film „Magical Mystery Tour“!

Even more radically, however, the Western misconception of the thoroughly „well-behaved“ and state-sponsored socialist art was broken by a woman from former Yugoslavia (who, however, left that country and went to the West): Marina Abramović.

Fear and the unknown lead to the new

Now, until 12 August 2018, visitors to the Bundeskunsthalle in Bonn have the opportunity to get to know their work in an exhibition.

Some people will not like this exhibition, some will even find it disgusting, but it will certainly not leave any visitor indifferent.

And: it offers a very independent view of the world in general, but especially of the culture(s) on the territory of the former Yugoslavia.

Abramovic formulated her approach like this in an interview:

If you do things that frighten you, that are unknown, that is a very big chance for a real change.

The results are, in this way, are accordfing to an assessment

groundbreaking performances, with which she repeatedly explores her own psychological and physical limits.

Art that comes from „body“

The Swiss broadcaster SFR formulated, in a contribution linked to „Seven major performances for the 70th birthday of the performance artist“:

Art comes from ability? Her art comes from the body. And from hard work. Marina Abramović has never taken it easy on herself. She also pushes her audience to its limits.

The Bonn exhibition also offers a lot of physical art, not only in photographs or film screenings, but also „live“.

Life-sized immobile figures of a naked couple, between which you can squeeze yourself through, „turn out“ to be real.

For the visitors, it is a moment of experience when they only notice this when they have already come as close to the performers as they do in a normal biography in the course of their lives only with very few people (and then usually only „one to one“ and by no means in public space).

The Swiss website just mentioned describes this situation like this:

You are facing each other at the entrance to a gallery and leave the entering visitor a little too little space to get through. There either his penis is in the way. Or her bosom. Here the question in the space in between is: Who to touch?

Violence as a theme, but also the artist is a voluntary object of violence

Another theme in Abramovic’s work, which is often linked to that of her own physicality, is violence.

In her work in the 1990s, she explicitly deals with the disintegration of the former Yugoslavia and the violence that erupted in the process, for example in the Performace Balkan Baroque.

Performance Balkan Baroque ran over a period of four days, during which the artist sat for six hours at a time on a mountain of 1500 fresh, partly still bloody bovine bones and cleaned them with a brush and water from a copper bucket and a copper tub to remove the remaining meat. She sang Yugoslavian folk songs throughout, choosing one death song from each of the different republics each day.

But earlier works can also be associated with the Balkans. In 1974, for example, she offered herself to the audience at a performance together with tools and weapons, including saws, hammers and axes, but also a pistol, with which the audience could maltreat her – which they did.

With this she made herself an object and tested what others do when someone is „offered“ to them as an object. Thus this performance was also a blueprint for what many, especially women, had to experience less than two decades later during the Yugoslav wars.

Describing by “ letting others experience“.

Admittedly, there is something disturbing about these performances, but they bring the indescribable sides of reality closer than any art form could. (Apart from the „impalement scene“ in the novel „The Bridge over the Drina“ by Ivo Andrić, which is rightly described as „one of the cruellest scenes in world literature, held in a tone of unexcited vividness“):

Courage to puzzle

In her later works she also returned to her home country, this time again under the aspect of eroticism.

In the film „Balkan Erotic Epic“ she deals with sexual and fertility rites in the Balkans. Wikipedia comments as follows:

In various individual scenes Abramović explains various rites, alternating with scenes in which, for example, women hold their breasts in the sun or their vulva in the rain, or men masturbate outdoors or penetrate the ground.

We were at the exhibition with our 17-year-old daughter. Her comment: „What’s wrong with her?“ What is German is expressed with the formulation „What is she lacking?“

Marina Abramović is certainly not lacking the courage and the willingness to confront others with unpleasant truths and images!

About this column

Seen from the outside, the region of the former Yugoslavia seems to be dominated by men. However, there were and are also many remarkable women there. We would like to present some of them here at irregular intervals under the heading „Remarkable Yugoslavian women“.

Translated with (more than) a little help from https://www.deepl.com/translator

 

 

 

 

 

 

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