Der Friedhof der lesenden Toten

Belgrad hat viele Sehenswürdigkeiten. Eine wird jedoch meist übersehen, weil sie abseits der üblichen touristischen Wege liegt. Die Rede ist vom „Neuen Friedhof„.

Der stammt zwar noch aus dem vorletzten Jahrhundert, heißt aber immer noch so.

Er erzählt viele Geschichten. Deshalb könnte man viele über ihn schreiben.

Christen und Muslime im Tod Seite an Seite

Etliche davon hätten mit Kriegen zu tun. Hier liegen nämlich die Opfer (meist nennt man sie: Helden) verschiedener Kriege, von denen es hier ja einige gab in der Zeit seit der Friedhofseröffnung.

Besonders bemerkenswert ist hier das Nebeneinander von christlichen und muslimischen Grabstätten im Bereich, der den französischen Toten des Ersten Weltkriegs vorbehalten ist.

 

Schachspieler „Großartiger„, ermordete Präsidenten nur „verdiente Bürger

Eine andere Geschichte, die wir hier nicht erzählen werden, ist diejenige von der sozialen Hierarchie innerhalb der prominenten Toten.

Es gibt hier nämlich eine „Allee der Großartigen“ (Алеја великана / Aleja velikana).

In dieser finden sich 22 Grabsteine, darunter der eines Geographen,  und diejenigen von Komponisten sowie Schriftstellern – und eines Schachspielers.  Letzterer wurde noch 2012 durch sein Begräbnis in dieser Abteilung in den Rang eines „Großartigen“ erhoben

Wesentlich zahlreicher sind die Gräber der (nur) „verdienten Bürger“ (Алеја заслужних грађана / Aleja zaslužnih građana).

Lediglich in diese Kategorie geschafft haben es der Nobelpreisträger Ivo Andrić und zwei Präsidenten, ein amtierender und ein früherer. Beide wurden im ersten Jahrzehnt der 2000-er Jahre ermordet, vermutlich von Milošević-Anhängern.

Dies ist zum einen der auch im Westen bekannte  Zoran Đinđić, der 2003 einem Attentat zum Opfer fiel.

Zum anderen ist es der außerhalb der Grenzen des Landes wesentlich  weniger bekannte Ivan Stambolić. Dieser war zuerst Weggefährte von Slobodan Milošević, dann dessen Gegner. Vor den Wahlen im Jahr 2000 wurde er entführt und ermordet.

In diesem Zusammenhang müssten noch viele traurige Geschichten erzählt werden. (Eine müsste auch davon handeln, wie schwierig sich das Land tut, sich den negativen Seiten der eigenen Vergangenheit zu stellen.)

Ein bislang viel zu wenig beachteter Aspekt dieses Friedhofs

Das alles sind Themen, die im Rahmen eines Beitrags an dieser Stelle kaum adäquat behandelt werden können. Deshalb soll es hier um einen anderer, bislang viel zu wenig beachteten Aspekt dieses Friedhofs gehen.

Auch dieser ist traurig, weil sämtliche Beteiligten der Natur der Sache nach schon tot sind. Andererseits aber ist die Angelegenheit positiv, weil er mit einer guten Sache, nämlich Kultur, zu tun hat

Hunderte von Statuen

Auf den Friedhof gibt es viele liebevoll ausgestaltete Statuen. Ihre Zahl geht in die hunderte.

Wenn sie keine Engel darstellen, sind es meist Abbildungen der Verstorbenen.

Einige davon sind sehr realistisch.

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Und werden während der kalten Jahreszeit vorsorglich verpackt.

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Andere Darstellungen (übrigens aus dem Jahr 1931) sind eher abstrakt.

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Unterschiedliche Hintergründe, eine Gemeinsamkeit

Die Abgebildeten sind unterschiedlich alt geworden, haben zu verschiedenen historischen Zeiten gelebt und standen für unterschiedliche politische Systeme. Ob Kaufmann, Offizier – welcher Armee auch immer – oder Student: Sie alle scheinen gerne gelesen zu haben. (Oder zumindest wollen uns das ihre Hinterbliebenen glauben machen.)

Wie anders wäre es zu erklären, dass sie alle in Stein mit ihrem Lesestoff abgebildet wurden? Die

Der  mittelalterliche bürgerliche Herr,

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der vielleicht gleichalte aufrechte Kämpfer für ein neues Gesellschaftssystem,

und sein Gegner, der  gealterte Kapitalist,

oder diese Dame

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und dieser typische 1970-er Jahre Student mit seinen, nun in Stein gemeiselten  Sandalen:

Sie alle lesen auch noch in der Ewigkeit!

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Die Tragik eines Apotherlebens

Viel gelesen hat sicher auch dieser Apotheker.

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Auch wenn er damit vielen seiner Patienten helfen konnten: Der eigenen Familie scheint es nicht geholfen zu haben.

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Auf dem Grabstein finden sich nämlich auch die Namen und Lebensdaten mehrerer Kinder, die es trotz des fachkundigen Vaters nicht bis zum Schulalter geschafft haben.

 

 

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