Historische Balkan Transgender-Tradition stirbt aus

(Quelle des Beitragsbildes: serbische Wikipedia https://sr.wikipedia.org/wiki/%D0%92%D0%B8%D1%80%D1%9F%D0%B8%D0%BD%D0%B0)

Traditionen (über)leben auf dem Balkan länger als anderswo. Und manche sind für Westeuropäer erklärungsbedürftig.

Das gilt auch für die Schwurjungfrauen (tobelija, serbisch zavetovana devojka, albanisch vajzë e betuar = durch einen Eid gebundene Person oder serb. Virdžina, alb. Virgjinéshë = zur Jungfräulichkeit verpflichtete Frau).

Historisch akzeptierter Wechsel des Geschlechts in traditionellen Gesellschaften

Das sind Frauen, die, von ihrem Umfeld toleriert und akzeptiert, ihr soziales Geschlecht wechseln. Entstanden ist dieses Phänomen nicht etwa im Zuge der gegenwärtigen Neudefinition des früher ausschließlich „bipolaren“ Geschlechterbegriffs, sondern im Mittelalter – oder vielleicht sogar in vorchristlicher Zeit.

Die tobelija  kleiden sich wie Männer, werden von der Gesellschaft als solche anerkannt,  dürfen rauchen, Alkohol trinken, schießen und erben. Auch an Ratsversammlungen dürfen sie teilnehmen, haben dort allerdings kein Stimmrecht. Und sie dürfen die gusle spielen, ein Instrument das traditionell eigentlich Männern vorbehalten ist.

sworn_virgin_in_rapsha_albania

(Bild von Edith Durham (8 December 1863 – 15 November 1944)

Gleichstellung auch im „Blutzollwert“

Sie genießen allerdings auch zweifelhafte Privilegien: Wenn sie im Rahmen einer Blutrache  getötet werden, hat ihr Tod dieselbe Sühnewirkung wie derjenige eines biologischen Mannes.

Einen Preis müssen sie allerdings für diesen sozial akzeptierten Geschlechterwechsel bezahlen: Sie müssen ihr Leben lange sexuell enthaltsam leben.

Westliche Entdecker mit westlichen Projektionen

Für die westliche Welt „entdeckt“ wurden die Schwurjungfrauen im 19. Jahrhundert. Der erste Bericht stammt von Milorad Madakovic, einem serbischen Völkerkundler, der 1855 im Genzgebiet zwischen der Herzegowina und Montenegro einer Schwurjungfrau namens Milica begegnete und diese beschrieb.

Weitere Berichte schlossen sich an. Allerdings auch viele von Reisenden, die nie einer solchen „Mannfrau“ begegnet waren.

Dementsprechend sind viele dieser Berichte reine Projektionen einer westlichen Sicht auf die Dinge. Dies geht hin bis zum   – natürlich von einem deutschen Autor gezogenen – Vergleich mit Amazonen, wie es sie angeblich auch bei den Germanen gegeben haben soll:

For Dr. Schultz, who in 1907 published an article accompanied by several photos in Die WocheModerne Illustrierte Zeitschrift, s/he is also an Amazonian, but of the type that once existed (or so he believed) among the ancient Germans in the time of the great migration of peoples.

Zitat aus: Aleksandra Djajic Horváth, A tangle of multiple transgressions: The western gaze and the Tobelija (Balkan sworn-virgin-cross-dressers) in the 19th and 20th centuries

Paradox: Patriarchlische Gesellschaft begünstigt „Transvestismus“

Bei den tobelija handelt es sich um den einzigen anerkannten Fall eines Wechsels der Geschlechterrolle in den traditionellen Gesellschaften des Balkans . Auch wenn das Phänomen in englischer Sprache als female-to-male-transvestism oder sworn-virgin-cross-dressers, bezeichnet wird, gibt es, anders als bei anderen cross-dressern und Transvestiten, keinen sexuellen  Hintergrund.

Die Motive für einen solchen Tausch der Geschlechterrolle liegen paradoxerweise gerade in den patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft.

  • Dadurch, dass eine Frau zum sozialen Mann wurde, konnte sie nämlich einer bereits engagierten Zwangshochzeit entgehen, ohne dass die eigene Familie dadurch vertragsbrüchig wurde.
  • Und wenn alle männlichen Nachkommen starben, konnte „der neue Mann“ die Familie eine Generation weiterführen, in der Hoffnung, dass in der Zwischenzeit aus einer Seitenlinie männliche Nachkommen hinzukommen würden.

Ein länder- und religionenübergreifendes Phänomen

In den heutigen Berichten über Schwurjungfrauen entsteht mitunter der Eindruck, es würde sich um ein ausschließlich albanisches Phänomen handeln. Tatsächlich gab es tobilijas, außer in Albanien und im Kosovo früher auch auf dalmatinischen Inseln sowie in  Bosnien und Montenegro.

Dabei handelte es sich auch um ein religionsübergreifendes und transnationales Phänomen: Belegt sind sowohl muslimische, katholische und orthodoxe Schwurjungfrauen, die auch zu slawischen Bevölkerungsgruppen wie Kroaten, Serben und Montenegrinern gehörten.

Filme zum Thema

Im Jahr 2016 kam der nach einem Roman der albanischen Schriftstellerin Elvira Dones entstandene Film „Sworn Virgin“ der italienischen Filmemacherin Laura Bispuri auch in die deutschen Kino.

Das ist jedoch noch die erste spielfilmhafte Bearbeitung des Thema.

Bereits 1991 befasste sich der jugoslawische Spielfilm „Virdžina“ mit diesem Thema.Nicht nur dadurch ist dieser Film etwas Besonderes. Laut polnischer Wikipedia war das auch der Film, mit dem die Epoche der gesamtjugoslawischen Kinematografie zu Ende ging. Er stellte nämlich die letzte Koproduktion zwischen den Studios in Belgrad und Zagreb dar, bevor der Staat zerbrach.

Das Ende einer historischen Epoche

Eine weitere Epoche ging im Sommer 2016 zu Ende. Damals nämlich verstarb die letzte Schwurjungfrau Montenegros, mit der dieses Kapitel für die slawisch dominierten Teile des Westbalkans endgültig Geschichte wurde.

Schade daran ist, dass damit eine Tradition zu Ende geht, Lebensformen, die  nicht in das althergebrachte Mann-Frau-Rollenschema passen, zu akzeptieren. Einges deutet nämlich darauf hin dass diesbezüglich etwas mehr Entspannung durchaus willkomen wäre.

Weitere Quellen:

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