Shortcut to the past: 16-stöckige Verwandtschaftsbezeichnungen

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So viele Generationen- und jede hat einen eigenen Namen

Serben und Deutsche haben ein gegensätzliches Verhältnis zu ihrer Geschichte

Deutsche, die häufiger mit Serbien zu tun haben, wundern sich mitunter, wie sehr man dort in der eigenen Geschichte lebt.

Dieses Unverständnis erklärt sich nur zu einem Teil dadurch, dass man in Deutschland eher ein distanziertes Verhältnis zur eigenen Geschichte hat. Zum anderen Teil hat es seine Ursache darin, dass in Serbien ein besonderes inniges Verhältnis zur Geschichte (womit nicht unbedingt Geschichte im Sinne einer nach Objektivität strebenden Wissenschaft gemeint ist) gepflegt wird.

Die Vergangenheit (im Sinne eines allgemeinen Narratives, nicht als Ergebnis einer vorbehaltlosen objektiven Rekonstruktion dessen, was sich früher ereignet hat) ist im Denken der Menschen dort weitaus präsenter als in Deutschland. Und bestimmt deshalb das Handeln auch mehr.

Ein Beleg für die Präsenz (oder sollte man in diesem linguistischen Zusammenhang sagen: das Präzenz) der Vergangenheit ist die serbische Sprache.

Erinnerung (nicht nur) bis ins dritte, vierte oder siebte Glied

Jeder kennt die Redewendung, nachdem gewisse Dinge „bis ins siebte Glied“ geahndet werden würden. (In der Bibel, 2. Mose 20.5-6, die oft als Quelle für dieses Zitat herhalten muss, ist übrigens nur vom dritten und vierten Glied die Rede).

Dem unbefangenen Leser dürften bereits diese Zeiträume als unangemessen lang erscheinen. In der deutschen Sprache käme auch der Eloquenteste, wenn er denn überhaupt über solche Dinge sprechen würde, nicht daran vorbei, die verschiedenen „Ur-Ur-Urs“ mit den Fingern abzuzählen, um über seine  entsprechenden Vorfahren zu sprechen.

Eine Sprache, in der es für jeden „Ur-Ur-Ur….“ eine eigenes Wort gibt

„Einfacher“ ist das in der serbischen Sprache –  vorausgesetzt, dass man sich die verschiedenen Bezeichnungen auch merken kann. Im Serbischen kann man nämlich 16 (!) Generationen zurückgehen – und jede in männlicher und weiblicher Form mit einem eigenen Wort bezeichnen, ohne eine endlose Aneinanderreihung der Vorsilbe „Ur“ verwenden zu müssen.

Sechzehn Generationen. ebensoviele gesonderte Bezeichnungen

Hier sind, in aufsteigender Linie, die Bezeichnungen:

Generation  1:                                Sin, ćerka                                      Sohn, Tochter
Generation 1                                  Otac, majka                                   Vater, Mutter
Generation 2                                 Deda, baba                                      Groß……
Generation 3                                 Pradeda, prababa                         Urgroß……
Generation 4                                 Čukundeda, čukunbaba            Ur-urgroß….
Generation 5                                 Navrdeda, navrbaba                   Ur-ur-ur….
Generation  6:                              Kurđel, kurđela
Generation 7                                Askurđel, askurđela
Generation 8                                Kurđup, kurđupa
Generation 9                                Kurlebalo, kurlebala
Generation 10                              Sukurdov, sukurdova
Generation 11                               Surdepač, surdepača
Generation 12                              Parđupan, parđupana
Generation 13                              Ožmikur, ožmikura
Generation 14                              Kurajber, kurajbera
Generation 15                              Sajkatav, sajkatavka
Generation 16                              Beli orao, bela pčela                     14 x Ur ….

Geschichte wird dadurch zur Familiengeschichte

Rechnet man für jede Generation 30 Jahre, dann hat aus Sicht eines Anfang der 2000-er Jahre geborenen Serben der eigene  Askurđel beim 1. serbischen Aufstand 1809 mitgekämpft.

Auch wenn man seinen Namen nicht mehr weiß:

Historische Ereignisse sind einem vermutlich näher, wenn man für die damals beteiligten oder  betroffenen Vorfahren eine eigene Bezeichnung hat, als wenn es um den „Ur-Ur-Ur- äh- wieviele Urs haben wir schon ?-Großvater“ ginge. Dann sieht man die Vergangenheit weniger abstrakt als Teil der eigenen Familiengeschichte.

Prägt Sprache das Denken – oder folgt Sprache aus Denken?

Das Denken, sagen manche, wird durch die Sprache geprägt. Vielleicht aber ist es aber – umgekehrt – so, dass das  Denken (und Handeln und Erleben)  als „Voraustatbestand“ zu solchen Worten in einer Sprache führt?

 

 

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