Die serbische Hauptstadt Belgrad ist eine tolle Stadt!
Aber warum nicht mal einen Ausflug ins Umland machen? Zum Beispiel nach Smederevo, eine der früheren serbischen Hauptstädte.
Mehr ehemalige Hauptstädte als die deutsche Wikipedia kennt
„Eine der früheren serbischen Hauptstädte?“
Ja, es gab in der wechselhaften Geschichte Serbiens mehrere Hauptstädte. Sogar mehr als die deutschsprachige Wikipedia kennt. ( Die englischsprachige und – natürlich die serbische – wissen da mehr.)
Mit dem Bus fährt man von Belgrad nach Smederovo etwas mehr als eine Stunde. Und einen halben Tag kann man dort gut rumbringen. Wenn man sich auch gerne mal entschleunigt, lohnt sich auch ein längerer Aufenthalt. Nicht nur, weil Übernachtung und Essen dort deutlich billiger sind als in der heutigen Hauptstadt.
Beindruckende Festung in einem verschlafenen Städtchen
Zugegeben: Heute ist Smederevo ein eher verschlafenes Städtchen. Aber die Festung, die das Zentrum der damalige Hauptstadt bildete, ist heute auch noch ein eindrucksvolles architektonisches Denkmal.
Eine der größten Festungen Europas!
Hier ein paar Eckdaten:
An die dreieckige Hauptburg (Mali grad) mit sechs Türmen schließt sich ein ebenfalls dreickeckiger Komplex mit 19 Türmen an. Jeweils mehr als ein halber Kilometer der Burgmauer verlaufen entlang der Donau und hin zur Stadt, weitere vierhundert Meter entlang des Flusses Jezava.
Wer einmal rund um die Festung läuft, legt also eineinhalb Kilometer zurück!
Auffällige Schäden
Etwas fällt jedoch an der heute aufwändig restaurierten Festung auf:
Einige Türme stehen schief, ganz so, als ob sie von einer gewaltigen Kraft nach außen gedrückt worden wären.
Und genauso war es: Smederevo ist nämlich auch ein Beispiel für die dunkle Seite der deutsch-serbischen Geschichte.
Wechselnde Reiche und Herrscher
Aber der Reihe nach:
Die Stadt hat eine wechselvolle Geschichte: So gehörte sie eine Zeit lang zum Erzbistums Ohrid (heute Mazedonien), dann zu Byzanz, später zu Bulgarien und erst danach zu Serbien. Diese „historische Heimatlosigkeit“ ist keine Seltenheit in der Region.
Smederevo trat in den Mittelpunkt der serbischen Geschichte als Serbien 1427 die damalige (und heutige) Hauptstadt Belgrad an Ungarn abtreten musste.
Weshalb der serbische Despot (so hießen die Herrscher damals) Đurađ Branković die Hauptstadt nach Smederevo verlegte. In den folgenden Jahrzehnten ließ er den Ort zur größten befestigten Stadt Serbiens ausbauen.
Der Grund für diesen Aufwand: Man rüstete sich gegen die anrückenden Osmanen. Damit begann die Blütezeit Smederevos.
Geholfen hat der Aufwand allerdings nichts. Die Osmanen nahmen auch Smederevo ein und blieben Jahrhunderte.
Blutiger Zweiter Weltkrieg
Der verhängnisvolle 5. Juni 1941
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Festung dann wiederum Schauplatz tragischer geschichtlicher Ereignisse: Die deutschen Besatzer bezogen darin Quartier und betrieben dort ein Munitionsdepot, in dem es am 5. Juni 1941, einem Donnerstag, zu einer unvorstellbaren Katastrophe kam.
Damals war ein schöner Tag und es war viel los in Smederevo. Die serbische Boulevardzeitung Blic und ein englischsprachiges Web-Magazin beschreiben den Tag relativ übereinstimmend so:
Markttag und Zeugnisausgabe
Weil Markttag war, kamen viele Menschen aus den umliegenden Dörfern in das Städtchen. Außerdem gab es Zeugnisse und viele Schüler streunten nach dem Unterricht noch durch die Stadt, in der sich auch 70 Schauspieler des Nationaltheaters Novi Sad zu einem Gastspiel aufhielten.
Am Bahnhof, der keinen Steinwurf weit von der Festung entfernt liegt, drängten sich die Reisenden, so dass die Zugnummer 4714 nach Velika Plana nicht pünktlich abfahren konnte.
Um 14:14, der Zug hätte schon zwei Minuten auf der Strecke sein sollen, geschah das Unvorstellbare: Nicht weniger als 400, mit Munition beladene Wagons gingen in die Luft.
Eine gewaltige Explosion
Hinterher hat man ausgerechnet, dass die Explosionswelle sich mit einer Geschwindigkeit von fünf Kilometern in der Sekunde (!) ausgebreitet haben muss, und dass sie im Inneren der Festung eine Zerstörungskraft von 10 Millionen PS entfaltet hat. Das entspricht der zerstörerischen Wirkung einer kleinen Atombombe.
Die Zahl der Toten kennt keiner genau, sie ging aber in die Tausende.
Von 2400 Häusern blieben nur 25 gänzlich unbeschädigt. Der Explosionskrater hatte einen Durchmesser von 50 m und eine Tiefe von zehn Metern. Dort, wo heute Spaziergänger innerhalb der Festungsmauern entspannen, bildete sich ein Kratersee.
Alleine am Bahnhof schätzt man die Zahl auf 800 Tote:.
Ursache im Dunkel der Geschichte
Als Explosionursache galt lange Jahre ein Fehler der deutschen Besatzer beim Umgang mit der Munition oder aber die große Hitze. In den achtziger Jahren konnte man vor Ort hinter vorgehaltener Hand jedoch auch hören, dass es sich um einen Anschlag von Partisanen gehandelt habe, dessen Auswirkungen für die Zivilbevölkerung die Urheber unterschätzt hatten, so dass sie sich hinterher nicht mehr zu der Tat bekennen wollten.
Heute heißt es auf den offiziellen Gedenktafel in der Stadt, dass die Ursache unbekannt sei. Die Theorie vom misslungenen Anschlag wird mittlerweile offen in der serbischen Presse genannt. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass es am Tag der Explosion gerade einmal, in der dortigen Gegend nicht unübliche 26° gehabt hätte.
Der Zweite Weltkrieg brachte noch weiteres Unheil
Wer sich heute als Besucher auf das andere Ufer der Jezava verirrt, bemerkt vielleicht auf einer unscheinbaren Verkehrsinseln neben der Ausfallstrasse Kovinksi put ein unscheinbares Holzkreuz mit einem verdörrten Kranz dahinter.
Zuerst denkt man, dass hier einem der vielen Opfer des Straßenverkehrs gedacht wird. Wer sich die Mühe macht, über die Straße zu gehen, erfährt jedoch, dass hier die Opfer von Massenerschießungen („den hingerichteten Einwohnern Smederevos„) gedacht wird.
Wer mehr erfahren will, muss recherchieren. Und erfährt, dass an dieser Stelle die sogenannte Volksbefreiungsarmee im Herbst 1944 mit vermeintlichen Unterstützern der Besatzern und sonstigen politischen Gegnern abrechnete.
Auch hier ist die Zahl der Opfer unbekannt.
Eine Bürgervereinigung soll Angaben über 300, die örtliche orthodoxe Kirchengemeinde über 450 namentlich bezeichnete Opfer besitzen. Schätzungen über die Gesamtzahl reichen jedoch von 1500 bis 3000. (Wieder andere halten in Internetblogs die Erschießungen für eine politisch motivierte Lüge.)
Smerderovo heute
Heute begegnet man einer Kleinstadt, in die in den letzten Jahrzehnten viele moderne Leben dazugekommen sind, der man aber immer noch ihre mehr als 100.000 Einwohnern nicht ansieht.
Nach der Ankunft am Busbahnhof fällt einem als erstes ein Storchenpaar in die Augen.
Direkt neben der Festung findet man ausgebrannte Zugwagons.
Das hat jedoch nichts mit dem damaligen Unglück zu tun. Smederevo ist Sitz eines Eisenwerks, das heute in chinesischer Hand ist, und auch schon mal vom chinesischen Präsidenten besucht wurde. Die Wagons warten darauf, verschrottet zu werden.
Wer gut zu Fuß ist, ist schnell in der Natur:
Wer lange genug vom Zentrum der Jezava folgt, kann sogar den örtlichen Flugplatz finden, auf dessen Graspiste unter anderem beeindruckende Doppeldecker stehen.
Das Verhältnis der zur Hauptstadt Belgrad scheint gespalten:
Während der eine Teil per Graffiti dazu aufruft, die eigen Stadt (grad) zu lieben – und nicht Belgrad:
gönnen andere dem örtlichen Fußballclub den Namen nicht und taufen ihn in den Belgrader Club „Partisan“ um.
Deutschen begegnet man übrigens vorbehaltslos und höflich.
Ich bin in Kovin geboren. Mit großem persönlichen Interesse habe ich alles über Smederevo „aufgesogen“, weil bei dem beschriebenen Zugunglück meine Schwester Valeria Engst ihr Leben verloren hat. Ich kannte diesen Geschichtsteil Smederevos aus Erzählungen meiner Eltern.
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